Bahners, Patrick
solchen Erwägungen droht sich die Straf Justiz in
selbstgemachte Probleme zu verstricken, die nicht mit einer politischen
Bevorzugung bestimmter Delinquentengruppen zu tun haben, sondern mit der
Präferenz des Rechtssystems für Norm und Ordnung überhaupt. Ein Ehrenkodex ist
immerhin noch ein Kodex.
Wo über die schlimmsten Taten gerichtet wird, fließen
Recht und Moral, sonst um der Freiheit willen getrennt, wieder zusammen. Mit
der Höchststrafe drückt die Rechtsgemeinschaft ein absolutes Unwerturteil aus.
Wenn das Rechtssystem sich mit einem Gegen-Recht konfrontiert sieht, mag es für
einen Moment geneigt sein, darin seine eigene Vergangenheit wiederzuerkennen,
die ursprüngliche Einheit von Recht und Moral. Die Klassiker der
Rechtssoziologie waren bürgerliche Wissenschaftler im goldenen Zeitalter des
Bürgertums, das heißt selbstkritisch veranlagt. Ihre Idealtypenbildung hatte
einen nostalgischen Zug, dem archaischen Recht der Männergemeinschaften gaben
sie, klassisch gebildet, eine homerische Färbung. Mag sein, dass solche
kulturkritischen Figuren sich noch in den siebziger und achtziger Jahren unter
die Gedanken von Strafrichtern mischten, die aus ihren Lehrbüchern den
strafwürdigen, aber sittlich hochstehenden Gewissenstäter kannten. Es hat
jedoch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Einstufung der Beweggründe
des mörderischen Ehrenschutzes einen Wandel gegeben. Die maßgebliche
Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs stammt aus dem Jahr 1994. Dort steht:
«Der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes ist den Vorstellungen der
Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen, vor deren
Gericht sich der Angeklagte zu verantworten hat, und nicht den Anschauungen
einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft
nicht anerkennt.» Eine Tötung, bei der sich der Täter «gleichsam als
Vollstrecker eines von ihm und seiner Familie gefällten Todesurteils über die
Rechtsordnung und einen anderen Menschen erhebt, ist als besonders verwerflich
und sozial rücksichtslos anzusehen», zumal er in der Bundesrepublik die
Todesstrafe nicht zu befürchten hat.
Bei der Bewertung der Mühe, die sich die Gerichte mit der
Begründung der Mordmerkmale machten, ist zu bedenken, dass sie ihre Lehre
anhand von Fällen entwickelten, in denen es um Blutrache ging. Die vom Gericht
zu bestrafende Tötung war häufig die Antwort auf eine vorhergehende Tötung.
Gefühlsregungen wie Zorn, Hass und Rachsucht kommen nach der Rechtsprechung des
BGH «nur dann als niedrige Beweggründe in Betracht, wenn sie ihrerseits auf
niedrigen Beweggründen beruhen, also nicht menschlich verständlich, sondern
Ausdruck einer niedrigen Gesinnung des Täters sind». Wenn die Rachsucht dagegen
«auf dem (berechtigten) Gefühl erlittenen schweren Unrechts» beruht und damit
einen «beachtlichen, jedenfalls einleuchtenden» Grund hat, «spricht dies gegen
eine Bewertung als im Sinne der Mordqualifikation» - die
lebenslange Freiheitsstrafe kann in solchen Konstellationen unverhältnismäßig
erscheinen. Die jüngeren Ehrenmordfälle, die die Phantasie der Öffentlichkeit
beschäftigen, liegen von vornherein anders. Die Presse schreibt gerne, eine
junge Frau habe sterben müssen, weil sie wie eine Deutsche oder selbstbestimmt
habe leben wollen. Den Bruch der Tochter mit väterlichen Moralvorstellungen
mögen Eltern und Brüder als schlimme Kränkung, ja als erlittenes schweres
Unrecht empfinden - der Rechtsstaat kann dieses Gefühl unmöglich berechtigt
nennen. Nach dem Bundesgerichtshof wird ein niedriger Beweggrund in den Fällen
«ohne weiteres anzunehmen sein, in denen allein die Verletzung eines Ehrenkodex
als todeswürdig angesehen wird».
Der sogenannte Ehrenmord ist also nach der für die
Strafgerichte verbindlichen Auffassung des Bundesgerichtshofs wirklich ein
Mord. Die Berufung auf die Familienehre wird von den Gerichten nicht mildernd
berücksichtigt. Das Gegenteil ist der Fall: Der Anspruch, mit der Bluttat die
Familienschmach getilgt zu haben, weist sie als Mord aus. Allerdings kommt
ausnahmsweise auch eine Verurteilung wegen Totschlags in Betracht, «wenn dem
Täter bei der Tat die Umstände nicht bewusst waren, die die Niedrigkeit seiner
Beweggründe ausmachen, oder wenn es ihm nicht möglich war, seine
gefühlsmäßigen Regungen, die sein Handeln bestimmen, gedanklich zu beherrschen
und willensmäßig zu steuern». Mit dieser Ausnahme öffnet der BGH
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