Bahners, Patrick
zuletzt am Willen hapert, ist dagegen reichlich
dubios. Politiker müssen in der Demokratie eine Sprache des Voluntarismus
pflegen. Aber sie müssen dabei doch wissen, dass das eine Redeform für ihre
kleine Welt ist, dass es einen Unterschied macht, ob man das «Sie müssen nur
wollen!» an die Bundeskanzlerin oder an eine Putzfrau richtet. In der von
Sarrazin und Wulff heraufgeführten Unsicherheit entdeckten die Politiker den
Integrationsverweigerer. Die Integrationsprobleme konnten nun zugerechnet
werden. Bundesinnenminister de Maiziere bezifferte den Anteil der
Integrationsverweigerer auf zehn bis fünfzehn Prozent. Später verwendete er
diese Zahl nicht mehr. Auch auf Nachfrage wollte sein Ministerium nicht
angeben, welche Kriterien dieser Schätzung zugrunde lagen. In den Augen großer
Teile des Publikums wird der Ansatz viel zu niedrig gewesen sein. Bei Neda
Kelek liest man, die Hälfte der Deutschtürken lehne die Integration ab. Um auf
einen so hohen Wert zu kommen, muss man schon das Kopftuch als Zeichen der
Selbstausschließung deuten, ebenso wohl türkische Kulturvereine und Sportclubs,
wahrscheinlich sogar das «Hürriyet»-Abonnement und den Import türkischer
Musikkassetten. Bemüht man sich dagegen um eine Definition von
Integrationsverweigerung im Sinne der Gesetze, fasst man darunter die
absichtliche Nichterfüllung von Rechtspflichten im Zusammenhang der
Eingliederung, rutscht man in eine Region des statistisch kaum noch
Darstellbaren. Nachfragen der «Süddeutschen Zeitung» bei den Behörden mehrerer
Bundesländer ergaben, dass der Abbruch der verpflichtenden Sprach- und
Grundwissenskurse nur in Einzelfällen vorkommt.
Was ist aber, wenn Kinder nicht zum Deutschlernen angehalten
werden, wenn Arbeitslosen die Zähigkeit abgeht, mit der ein Ausländer die
Schicksalsvorteile eines hier geborenen und ausgebildeten Stellungssuchenden
ausgleichen müsste? In solchen Fällen fehlt es sicher häufig am Elan, an der
Willenskraft, und ein derartiges Versagen des Willens kann vorwerfbar sein.
Aber das Recht, solche moralischen Vorwürfe zu äußern, nimmt rapide ab, je
weiter der Zensor vom Adressaten entfernt ist. Die älteren Kinder, die entsetzt
darüber sind, dass ihre Geschwister die Chancen des Kindergartenbesuchs nicht
bekommen sollen, mögen den Eltern eine Szene machen. Vertrauenspersonen
außerhalb der Familie sind vielleicht ebenfalls in der Lage, den Eltern ins
Gewissen zu reden. Sozialpolitiker mögen aufgrund von Studien und Erfahrungsberichten
zu dem Schluss kommen, türkische Eltern täten zu wenig für die frühe Förderung
ihrer Kinder. Aber solange sie ins Gesetz keine Kindergartenpflicht schreiben,
müssen sie informieren, aufklären, werben, da ihre Drohungen leer sind. Es ist
schäbig, Menschen, die sich unter dürftigen materiellen Bedingungen an das
Vertraute halten, Verrat am Gemeinwohl vorzuwerfen, weil sie noch nicht gelernt
haben, ihre Chancen als Chancen zu erkennen.
Die andere Seite der
Parallelgesellschaft
Die Rhetorik der Einschüchterung richtet sich allerdings
gar nicht wirklich an die Zugezogenen, sondern an die Eingesessenen. Ein Trost
ist das nicht. Mit den lauten Sprüchen, fortgesetzte Verweigerung müsse
Konsequenzen haben, wecken die Politiker Erwartungen mit unabsehbaren Folgen.
Es ist heikel genug, dass sie ihre Wiederwahl mit der wirtschaftlichen
Prosperität zu verknüpfen pflegen. Das volkswirtschaftliche Geschehen ist
immerhin ein überpersönliches, das Gesetze in gewissen Grenzen beeinflusst. Im
Übrigen ist das Spekulieren auf die Konjunkturkurve eine Lotterie, die moderne
Variante der antiken Orakellesekunst. Doch wenn sie der
Integrationsverweigerung den Kampf ansagen, binden sie ihren Erfolg an die
Verhaltensänderungen von Privatleuten. Hartmut Esser weist darauf hin, dass
der Prozess der Übernahme von Verhaltensmustern und Einstellungen eine Sache
von mehreren Generationen ist. Was soll geschehen, wenn die Sanktionen nicht
greifen? Die beschwichtigenden Politiker und die besorgten Bürger verstehen
Unterschiedliches unter Verweigerung. Auf der Seite der Politik wird man eine
kleine Gruppe im Auge haben, die durch ein hochgradig asoziales Verhalten
auffällt und regelmäßig mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Im Publikum kommt die
Botschaft an, die sichtbare Fremdheit größerer Kreise der äußerlich gesetzestreuen
Neubürger werde verschwinden. Das einkalkulierte Missverständnis mag fürs
erste einen beruhigenden Effekt haben. Auf Dauer
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