Bahners, Patrick
hervor, dass sich
das Land an den Erfordernissen «alltäglicher Unterrichtssituationen einer
Grundschule» orientiert hatte. An höheren Schulen mochte ein größerer
Spielraum denkbar sein. Prophetisch war der Satz des Sondervotums über die
Konsequenzen des von der Senatsmehrheit postulierten Gesetzeszwangs zum Zweck
des Grundrechtsschutzes: «Mit einer für die Statuierung von Dienstpflichten
und für die beamtenrechtliche Eignungsbeurteilung ohnehin systemfremden allgemeinen
gesetzlichen Regelung wird nicht mehr, sondern weniger an
Einzelfallgerechtigkeit hergestellt.»
Ein deutscher Sonderweg
Mit den Kopftuchverboten in fast jedem Bundesland mit
einem nennenswerten muslimischen Bevölkerungsanteil hat Deutschland einen
Sonderweg beschritten. Allgemeine Kopftuch verböte für Lehrerinnen gibt es in
Europa sonst nur in Frankreich sowie in der Türkei, den beiden Ländern, in
denen der Kulturkampf gegen die Religion ein Element der Staatsräson ist. In
Österreich wehrte Bundeskanzler Schüssel von der konservativen ÖVP
entsprechende Forderungen aus der FPÖ 2003 mit der Bemerkung ab: «Wir müssen
nicht alle Diskussionen aus Deutschland importieren.» Ein Erlass des
österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur hielt
2004 fest, dass das Tragen von Kopftüchern durch muslimische Frauen und Mädchen
als religiös begründete Bekleidungsvorschrift unter den Schutz der Glaubens-
und Gewissensfreiheit fällt. «Eine Einschränkung religiöser Gebote steht
außerkirchlichen Stellen nicht zu.»
Das Schulwesen ist Ländersache. Die Bundesregierung machte
von ihrem Recht Gebrauch, sich im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde zu
äußern. Juristen sind es gewohnt, Probleme durch Verallgemeinerung zu
beseitigen, und überlassen die Folgeprobleme, die nicht mehr juristischer Natur
sind, der Gesellschaft. Die Regierung hätte die Gelegenheit gehabt, den
Richtern vor Augen zu führen, welche Folgen eine Verdrängung des Kopftuchs aus
dem Erscheinungsbild des öffentlichen Dienstes für das ganze Land haben
musste. Die rot-grüne Bundesregierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer
hatte die Konsequenzen der Einwanderung zu einem Hauptthema ihrer Politik
gemacht. Schon bei Amtsantritt nahm sie die Anerkennung des Faktums kultureller
Pluralität in einer für Neubürger offenen Gesellschaft als historische Leistung
für sich in Anspruch. Das sollte der Markstein eines Realismus sein, wie ihn
die sozialliberale Reformregierung Willy Brandts mit der Bereitschaft unter
Beweis gestellt hatte, die Tatsachen der Existenz der DDR und des Verlusts der
Ostgebiete zu akzeptieren. Was konnte die Aussicht, in staatlichen Schulen
nirgendwo einer Lehrerin mit Kopftuch zu begegnen, für die Zugehörigkeit
muslimischer Mitbürger bedeuten? Die vom Bundesinnenministerium namens der
Bundesregierung in Karlsruhe abgegebene Stellungnahme ist eine der verpassten
Chancen der Debatte.
Bundesinnenminister war der Sozialdemokrat Otto Schily,
der sich schon wenige Wochen nach seiner Amtsübernahme mit der Forderung
exponiert hatte, islamische Religionsgemeinschaften sollten nach dem Vorbild
der christlichen Kirchen den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts
erhalten. Der Schriftsatz des Ministeriums war aus der Perspektive des für das
Beamtenrecht zuständigen Ressorts formuliert. Der «Gefahrenprognose des
Dienstherrn, der Schulfriede könne durch das auffällige Erscheinungsbild der
Lehrerin nachhaltig gestört werden», maß das Ministerium «großes Gewicht» zu.
Begründung: Die Schüler seien «während des gesamten Unterrichts mit dem
Ausdruck einer fremden Religiosität ohne Ausweichmöglichkeit konfrontiert».
Die Verwendung des Wortes «fremd» in diesem Satz offenbart einen bestürzenden,
für die Debatte fundamentalen Denkfehler. Am Platz wäre das Adjektiv allenfalls
in einer statistischen Prognose. Man konnte damit rechnen, dass eine Mehrzahl
der Schüler den Anblick der verschleierten Lehrerin als fremd empfinden würde.
Doch damit war dieser Anblick noch keine nachhaltige Störung, deren Behebung
der Lehrerin auferlegt werden musste. Erziehung in der Schule ist Begegnung
mit dem Unbekannten. Man erwartet von Schülern, und zwar auch schon von
Grundschülern, dass sie sich an den fremdartigen Anblick eines Lehrers mit
schwarzer Hautfarbe gewöhnen. Es müsste hier um eine normative Fremdheit gehen.
Das Kopftuch dürfte nicht zusammenpassen mit der Verfassung, auf die
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