Traumbildern haben. Bei
ersten Begegnungen, ersten Berührungen, wenn in vollkommener Unschuld
Vertrauen investiert wird, enthüllt sich sogleich das Böse eines Systems
schrankenloser Gewalt in intimen Verhältnissen. Als Neda fünf Jahre alt war,
nahmen die Eltern sie mit in die alte Heimat, nach Pinarbashe in Anatolien. Der
Vater der Mutter lag im Sterben. Auf dem Weg ans Sterbebett mussten sie der
Mutter des Vaters ihre Aufwartung machen. Die Witwe war die Herrin über ein
mehrstöckiges Holzhaus im osmanischen Stil, ein «dunkles Traumschloss». Neda
sah ihre Großmutter zum ersten Mal in ihrem Leben. Die alte Frau stand oben auf
dem Absatz einer steilen Treppe, mit einem Schlüsselbund an der Hüfte und
einem Turban auf dem Kopf. «In der rechten Hand hielt sie eine kurze Peitsche.
Ich blieb auf der untersten Stufe, mit einer Hand auf dem Geländer stehen, und
sie kam mir entgegen. Sie sah meine roten Fingernägel, nahm die Peitsche,
schlug damit auf meine Hand und sagte:
ausreißen, wenn du gestorben bist.>» Das Wissen über die Binnenverhältnisse
muslimischer Familien, das die Enkelin der Peitschenschwingerin ausbreitet,
stammt aus erster, malträtierter, um ein Haar abgehackter Hand.
In einem späteren Kapitel wird das herrische Auftreten der
seit Jahrzehnten verwitweten Agrarunternehmerin in den geschlechtersoziologischen
Kontext der Aufbruchs jähre der Republik Kemal Atatürks eingeordnet. Die
Großmutter übernahm die Rolle ihres verstorbenen Gatten und erhob Anspruch auf
dessen Ansehen. War das wirklich, wie ihre Enkelin suggeriert, erst dank der
Zivilrechtsreform Atatürks möglich? Bis heute ist das Patriarchat auf dem Land
weniger strikt als in der Stadt. Erkennbar wird der Wille Neda Keleks, dem
Gründer der Republik einen Platz in ihrer Familiengeschichte zuzuweisen. Wenn
die Witwe öffentlich in Erscheinung trat, fügte sie sich den überlieferten
Schicklichkeitsstandards nicht. Im Gegenteil legte sie «ein geradezu
despotisches Selbstbewusstsein» an den Tag, «das sie dazu befähigte, sich über
die Tradition hinwegzusetzen». Zunächst erregte sie Anstoß, aber «als die fast
Hundertjährige immer noch die Schlüsselgewalt über Haus und Hof ausübte und
rauchend und mit der Peitsche in der Hand die Geschicke ihres Clans lenkte»,
war sie längst zur «regionalen Legende» geworden. Warum ließ sie ihre fünfjährige
Enkelin wie eine auf frischer Tat ertappte Diebin spüren, dass sie sich hüten
solle, sich über die Tradition der unlackierten Fingernägel hinwegzusetzen?
Die Großmutter soll nach dem Peitschenhieb eine Küchenhilfe aufgefordert haben,
ihr den kleinen Teufel aus den Augen zu schaffen. Von einem besonders engen
Verhältnis zu Allah ist im Übrigen nicht die Rede.
Eine vergleichbare emblematische Bedeutung hat die Szene,
mit der Neda Kelek die Schilderung der Hochzeitsnacht ihrer Eltern einleitet.
Der Bräutigam ist noch auf dem Hochzeitsfest, von dem die
Braut ausgeschlossen ist. Sie wartet im Schlafzimmer. Man hat ihr gesagt, sie
solle sich vorbereiten, aber sie weiß nicht, worauf sie sich vorzubereiten
hat. Nur im Flüsterton ist unter den Frauen in ihrem Elternhaus darüber
gesprochen worden, man hat ihr geraten, sich hinzulegen und zu beten. Müsste
ein solcher Viktorianismus in der Nachkommenschaft eines Frauenhändlers nicht
überraschen? Ein «Henna-Abend» zum Abschied der Braut von ihrer Mutter und
ihren Freundinnen, wie ihn Neda Keleks Schwägerin 2002 feierte, soll jedenfalls
nicht stattgefunden haben. Seit Tagen hat die Braut nichts Richtiges gegessen,
so nimmt sie, während sie wartet, einen Apfel aus der Obstschale auf dem Tisch
vor dem Fenster und beißt hinein. Sie hat nicht bemerkt, dass ihr Mann ins
Zimmer getreten ist. «Als er sie am Fenster in ihrem Brautkleid stehen sah, den
angebissenen Apfel in der Hand, ging er auf sie zu, holte aus und schlug ihr
mit der flachen Hand ins Gesicht.
irgendetwas in diesem Hause zu nehmen!>» Dieser Prolog der Ehetragödie
parodiert die biblische Erzählung von Adam und Eva, den Mythos vom Sündenfall.
Die unaufgeklärte Frau, der die Frauen der eigenen Familie
das Wissen vorenthalten haben, beißt arglos in den Apfel. Sie wird bestraft,
weil sie für die sexuellen Bedürfnisse des Gatten da sein soll wie das Obst in
der Schale für den Hunger des Hausherrn. Obwohl sie sich gar nicht auflehnen
wollte, hat sie gegen das Gebot der perfekten Passivität