Bahners, Patrick
heroische
Vision, dass der moderne Mensch zur Herrschaft über seine Welt berufen ist.
Über solche Motive einer Kritik des Kemalismus, die in der Türkei keineswegs
nur von islamisch-konservativen Autoren, sondern auch von liberalen
Intellektuellen vorgetragen wird, erfahren Neda Keleks Leser nichts.
Sie selbst predigt die voluntaristische Lehre, dass der
freie Mensch der Herr seines Schicksals sei, in einer enthusiastischen Fassung,
die an die amerikanische Ersatzreligion des positiven Denkens erinnert. In
ihrer Schreibkarriere ist ein stillschweigender Austausch der Autoritätsgrundlage
eingetreten. Sie spricht nicht mehr als Opfer, sondern emphatisch als
Nicht-Opfer. Sie will kein Opfer sein, will Verantwortung für das tragen, was
ihr geschieht. Und so sollen auch alle anderen auf die Welt, den Arbeitsmarkt
und die Post vom Sozialamt blicken. Vom Bürger verlangt sie als Vorleistung für
die Gewährung des Bürgerrechts, dass er seines Glückes Schmied sein will.
Ihre Leserschaft erwartet von ihr inzwischen wohl auch
keine neuen Enthüllungen aus dem Innenleben der Einwanderergesellschaft mehr.
Die Moscheebesuche, die sie in ihrem Buch «Himmelsreise» aus dem Jahr 2o1o
schildert, lassen sich nicht mehr als Feldforschung ausgeben. Es handelt sich
um Inspektionen, die testen, ob der örtliche Imam so klug ist, die prominente
Kritikerin höflich zu behandeln. Offenbar gibt es bei diesen Überraschungsvisiten
so selten Zoff, dass es für ein Format im Privatfernsehen nicht reichen wird.
Die Soziologin ist im Hauptberuf heute Akteurin der Medienwelt. Ihr «Kampf
gegen die Wächter des Islam», der sich doch schon unter den Augen der Öffentlichkeit
abspielte, gibt den Stoff her für ein eigenes Buch. Mit ihrem sprudelnden
Redefluss hat sie den Bonus der Authentizität bewahren können. Echt wirkt, dass
sie eine Freude an einfachen Sätzen hat und dass sie die erste Person Singular
nicht scheut. Wie ihr Onkel Enischte jederzeit darauf vorbereitet war, «einen
langen, einen sehr langen Vortrag über die Größe der Türkei und des
verehrungswürdigen Atatürk» zu halten, so lässt die Nichte keine Gelegenheit
aus, ihr deutsches Publikum mit einer kurzen Lobrede auf das Land zu rühren, in
dem sie es so weit gebracht hat.
Republiken sind, das lehrt die historische Erfahrung,
tatsächlich darauf angewiesen, dass bei ihren Bürgern die Einstellung vorhanden
ist, für die der Althistoriker Christian Meier das schöne Wort «Könnens-Bewusstsein»
erfunden hat. Man muss sich zutrauen, die Dinge in die Hand zu nehmen und die
Chance der ungewissen Zukunft zu ergreifen. Das gilt für den Freistaat in einer
Welt von Rivalen und auch für den einzelnen Bürger im Wettbewerb mit
seinesgleichen. Aber wenn man sich im Club der Glücksschmiede erzählen lässt,
auch das Unglück sei immer ein selbstgemachtes und jeder Verweis auf widrige
Umstände die Ausflucht von Faulenzern und Defätisten, dann mutiert die
republikanische Motivationslehre zur Philosophie der Starken und Besitzenden.
In ihrer Doktorarbeit hat Neda Kelek einen ideologischen Mechanismus
beschrieben, der einrastet, wenn Forschung über den Islam mit der politischen
Frage nach Zugehörigkeit und Ausschluss verkoppelt wird. Schon die Grundbegriffe
werden dann so formuliert, dass mit ihrer Verwendung Zustimmung und Distanzierung
gefordert werden. «Was als modern und was als traditionell anzusehen ist,
entscheidet der Konsens der Eliten, welche die Begriffe definitorisch
verwenden.»
Als Autorin von «Die fremde Braut» ist Necla Kelek in die
Sphäre der Eliten aufgestiegen. Seitdem wählt sie ihre Worte ohne jene selbstkritische
Kontrolle auf undurchschaute Nebenwirkungen, die, wie die Doktorandin dargelegt
hatte, der Anfang der Wissenschaft ist. Sie arbeitet nicht mehr mit Begriffen,
sondern spricht in Formeln. Nach ihrer eigenen Aussage steht sie im «Kampf um
die Deutungsmacht». Legt man an die Entwicklung der Autorin einen
intellektuellen Maßstab an, muss man von Regression sprechen. Aber das Absehen
von Rücksichten, Kautelen und Nuancen ist ein auffälliges Verhalten, das im
sozialen Zusammenhang der Elitenverständigung seinen guten Sinn hat. Necla
Kelek demonstriert, dass sie die Definitionshoheit, auf die sie Anspruch
erhebt, ganz selbstverständlich ausübt. Zu simpel ist angesichts dieser Art von
Selbstsicherheit die Erklärung des Migrationsforscherkollektivs für den
Widerspruch zwischen Gesamtschulfeldstudie und Zwangsehenreport, die Autorin
habe
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