fraglos
Gegebene in allen ihren Büchern. 2002. hatte sie noch angenommen, das zunächst
als fraglos geltend Empfundene werde im Alltag der Muslime durchaus mit
Gegenfragen und Rückfragen konfrontiert, so dass sich Fraglosigkeiten
verändern könnten, sogar recht rasch. Seit 2005 steht für sie fest, dass die
islamische Kultur gar keine Fragen erlaubt. Mit Schiffauer hatte die Autorin
von «Islam im Alltag» die Friktionen bei der Berührung widersprüchlicher
Verhaltenserwartungen als Momente eines Prozesses des fortwährenden Aushandelns
deuten wollen. Es fällt ins Auge, weshalb diese diskursive Kulturtheorie Neda
Kelek im Rückblick unbefriedigend erscheinen musste. Sie verwandelt alle
Konflikte in Sprache, lässt Sprachlosigkeiten verschwinden und hat keine Sprache
für die Erfahrung der Gewalt.
Die fremde Tochter
Seit 1898 debattiert die Soziologie «das
Adam-Smith-Problem»: Wie passen die beiden Hauptwerke des schottischen
Philosophen zusammen, die «Untersuchung über Natur und Ursachen des Wohlstands
der Nationen» und die «Theorie der moralischen Gefühle»? Die Berliner
Psychologin Renate Haas hat eine ebenso scharfsinnige wie einfühlsame Lösung
des Necla-Kelek-Problems vorgeschlagen. «Die fremde Braut» könnte auch «Die fremde
Tochter» heißen. Das Buch ist die Geschichte einer Befreiung vom Vater, eines
Konflikts, der ausgetragen werden musste. Die Zwangsehe ist die Chiffre für
das Grundübel der modernen türkischen Kultur, der Latenz der patriarchalischen
Gewalt. Als Neda Kelek die Schülerinnen und Schüler in Wilhelmsburg befragte,
hatte sie durch das Setting der Interviews dafür gesorgt, dass sie auf
parallele Geschichten zu ihrem eigenen Drama gar nicht stoßen konnte. Um der
«Komplexität und Intimität des Themas» gerecht zu werden, sah sie davon ab,
«etwa erkennbare Widersprüchlichkeiten der Beantwortung und Darstellung in der
Konfrontation mit den Befragten aufzulösen». Wenn also eine Schülerin Ideale
schilderte, die sich mit den elterlichen Vorstellungen schlecht vertrugen, und
sich dennoch zur Gehorsamspflicht bekannte, dann fragte die Forscherin nicht
nach. Für das Vertrauensverhältnis, das auf diese Weise Zustandekommen sollte, lag ein kulturelles Muster
parat, das beiden Seiten vertraut war: Die Interviewerin wurde «von den
Befragten meist als
(große Schwester) angesprochen», mit einer
«Höflichkeitsform, die Achtung und Nähe gleichermaßen ausdrückt». In «Die
fremde Braut» wird die große Schwester als Komplizin und Opfer des
patriarchalischen Systems des doppelten einseitigen Respekts entlarvt, der von
den Frauen den Männern und von den Jüngeren den Älteren entgegenzubringen ist.
Neda Kelek widerrief «Islam im Alltag», so Renate Haas, um sich noch einmal von
ihrem Vater zu befreien.
Dessen Rolle in der Geschichte der Ankunft seiner Tochter
in Deutschland bleibt höchst ambivalent. Fast möchte man an den Typus des
tragischen Helden in Gründungsmythen denken, der ein Verbrechen begehen muss,
um ein Gemeinwesen ins Leben zu rufen. Wie John Wayne in «Der Mann, der Liberty
Valance erschoss» James Stewart den Ruhm und die Frau überließ und einsam
seine Tage beschloss, so verschwand Duran Kelek gerade noch rechtzeitig aus
dem Leben seiner jüngeren Tochter, bevor ihre Verheiratung auf die Familientagesordnung
kommen konnte. Neda Kelek führt heute das Leben im freien Westen, das der Traum
ihres Vaters gewesen war, und mit ihrem Konzept einer vertikalen Trennung von
Religion und Öffentlichkeit hält sie der Republik Atatürks die Treue, deren
Verheißungen den Vater einst nach Istanbul hatten ziehen lassen. Dass der Vater
sich im deutschen Exil als Gewaltherrscher entpuppte, wird in «Die fremde
Braut» nicht motiviert; der nachgetragene Ali-Schwank hat eher die Funktion
eines Lehrstücks, das die deutschen Liebhaber der türkischen Küche vor dem
Fastenbrechen mit den jovialen Betbrüdern aus Anatolien warnt. Archaische
Gewalten scheinen sich der braven Republikaner bemächtigt zu haben, als die
Eltern Kelek sich mit dem Unabhängigkeitsdrang der Kinder beschäftigen mussten.
In ihrem Beitrag zur interkulturellen Bildungsforschung hatte Neda Kelek annehmen
wollen, dass auch ein bigotter Chauvinist etwas mit sich ausgehandelt hat. Ihr
Bericht aus dem Inneren ihres Familienlebens legt die Übermacht einer Kultur
frei, die im Fall des Widerstreits mit natürlichen Empfindungen keine
innerpsychische Überzeugungsarbeit leisten muss. Mit