Balkan Blues
keine Heimat und keine Verwandtschaft kennt. Doch Vassilis hatte, wie gesagt, Marx nicht gelesen.
Kaffee Frappé
Die Braut, die diese Geschichte schreibt, hat mich auf eine Kykladeninsel geschickt, weitab vom Schuß und kaum größer als ein Felsenkap. Der Linienkahn spuckt uns um drei Uhr morgens mit zweistündiger Verspätung aus. Todmüde stolpern die Fahrgäste von Bord und ziehen ihre Siebensachen hinter sich her. Die Gepäckstücke hüpfen auf und ab, als ob sie Schlauchboote im Kielwasser einer Jacht wären.
Ich bin der einzige, den weder ein Eselkarren noch ein Empfangskomitee erwartet. Wozu sollte ich mich umblicken? Nur eine rohe Steinmauer in zehn Meter Entfernung und dahinter eine Palme schieben sich ins Licht der Hafenmole. Alles andere verschwimmt zu dunklen Umrissen. Ich habe mich schon fast damit abgefunden, zu Fuß zum Dorf gehen zu müssen, als ein mit Zwiebeln beladener Pritschenwagen neben mir anhält.
»Wohin soll’s gehen, Landsmann?« fragt der Fahrer.
»Zum Dorf.«
»Steig ein.«
Ich klettere auf den Beifahrersitz, der Pritschenwagen fährt ächzend an, und alle zehn Meter erinnert sich der Auspuff an seine Bestimmung.
»Wo übernachtest du?« fragt der Fahrer.
»Weiß noch nicht.«
Wie soll ich ihm erklären, daß die Braut, die diese Geschichte schreibt, es genau so haben will? Ich soll auf einer kleinen Insel, weitab vom Schuß, ankommen – ohne Fahrzeug und ohne zu wissen, wo ich übernachten werde.
»Du hast Glück«, meint er. »Ich vermiete ein paar Zimmer.«
Ich blicke aus dem Fenster. Nur den schmalen Fahrbahnstreifen kann ich im Scheinwerferlicht erkennen. Der Fahrer ist verstummt und fährt wie in Trance. Da er sich seine Kundschaft bereits gesichert hat, braucht er keine Konversation mehr zu treiben.
Die Braut, die diese Geschichte schreibt, hat mich hierher geschickt, damit ich eine Fünfzigjährige umbringe. Sie heißt Aliki, und wenn ihr die Fotografie, auf der ich sie gesehen habe, nicht unrecht tut, dann handelt es sich um eine reizlose Brünette mit Kurzhaarschnitt und faltigem Gesicht. Sie blickt mit dem lüsternen Lächeln einer Trinkerin in die Linse und bemüht sich vergeblich, geliebt zu werden.
Als ich fragte, warum ich sie töten sollte, fuhr mir die Braut über den Mund: »Ruhe jetzt, das Motiv geht dich nichts an.«
Ich bestand nicht weiter darauf. Ich weiß, daß ich die Rolle des Bösewichts spiele, also tue ich stillschweigend meine Arbeit. Diesmal hat sie mir sogar Bedingungen gestellt. Ich darf keine Waffe – Messer oder Pistole etwa – für den Mord verwenden. Ich darf Aliki allerdings aus dem Fenster oder über Meeresklippen in die Tiefe stoßen.
Zumindest mit dem Zimmer habe ich Glück, es ist sauber und ruhig. Nun sitze ich im Kafenion gegenüber und trinke mein Kaffee Frappé, während mir der Schweiß über den Nacken läuft. Um elf Uhr morgens brennt die Sonne bereits auf die allgegenwärtigen groben Steinmauern, auf die Felsen, die unter dem verdorrten Gras hervorlugen, und auf die schneeweißen Häuschen mit ihren blauen Fensterläden.
Als ich gerade darüber nachdenke, wo ich diese Aliki bloß finden kann, tritt sie aus der Pension, in der ich logiere. Die Braut überläßt nichts dem Zufall, denke ich mir. Sie trägt kein Schwarz wie auf der Fotografie, sondern ein T-Shirt, einen geblümten Rock und auf dem Kopf einen Strohhut mit breiter Krempe und rotem Hutband. Doch ihr eingefallenes Gesicht und den morgendlichen Schlafzimmerblick einer Trinkerin kann auch er nicht verbergen. Trotz der Mordshitze bestellt sie einen heißen Nescafé. Vielleicht weil ein Kaffee Frappé sie nicht auf Touren bringt. Sie zieht einen kleinen Notizblock aus ihrer Tasche und beginnt zu schreiben. Nach ein paar Worten läßt sie den Kugelschreiber sinken und den Blick hinüberschweifen zu den Felsen, die in der Sonne glühen. Dann wandert er zu ihren Notizen zurück. Mein kleiner Finger sagt mir, daß dieses Wechselspiel zwischen Schreiben und Träumen noch eine Weile weitergehen wird, und ich ordere noch ein Kaffee Frappé.
»Ich werde es tun«, sagte sich Jimmy immer wieder. Schluß mit den ewigen Bedenken: einmal war es das Motiv, das er kannte und verachtete, dann wieder die mehr oder weniger enge Beziehung zum potentiellen Opfer. Diesmal hatte er es mit einer gewissen Aliki unbekannter Herkunft zu tun, die er aus unbekannten Gründen umbringen sollte.
»Ich werde es tun!« erklärte er leise und zu allem entschlossen, während er sie dabei
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