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Balkan Blues

Balkan Blues

Titel: Balkan Blues Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petros Markaris
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Totalversagerin, alle naselang bin ich auf Entzug. Du tust mir einen Gefallen, wenn du mich umbringst. Nur eine Bedingung habe ich.«
    Sie verstummt, also schweige auch ich. Ich halte mir den Rücken frei, um zu sehen, worauf sie hinauswill.
    »Ich möchte, daß du mich an einer von mir ausgewählten Stelle in das kleine Hafenbecken stößt, damit ich auch zu einer Spukgestalt werde.«
    Die Braut, die diese Geschichte schreibt, macht es mir unglaublich leicht. Wenn ich auch diesmal nichts geritzt kriege, dann tauge ich nicht zu einer literarischen Figur. Dann tauge ich nicht einmal zu einer Witzfigur.
    Aliki findet eine Stelle genau oberhalb des Geisterdorfes.
    »Hier!« sagt sie. »Stell dich hinter mich. Ich schließe die Augen, und du schubst mich ganz leicht, als wäre es ein Scherz.«
    Ich stelle mich wortlos hinter sie. Reglos steht sie da, so daß ich nicht weiß, ob sie die Augen geschlossen hält oder träumerisch das Agäische Meer betrachtet.
     
    Aliki bereute ihren Entschluß in dem Augenblick, als sie Jimmys Hände an ihren Schultern spürte. Sie entzog sich mit einem Ruck und machte einen Schritt zur Seite.
    »Nein, ich will nicht!« rief sie. »Hör auf, ich hab es mir anders überlegt!«
    Sie wollte zur Weggabelung zurück, doch Jimmy hielt sie an den Armen fest. »Komm schon, bringen wir’s hinter uns«, meinte er. »Weder du noch ich haben Lust darauf, aber es muß getan werden.«
    Er gab ihr einen kräftigen Stoß. In ihrer Verzweiflung klammerte sich Aliki an seinem T-Shirt fest, und als sie nach unten stürzte, riß sie ihn mit sich. Sie segelten am Treppenlabyrinth des Dorfes mit den Geisterhäusern und den leeren Fensterhöhlen vorbei in die Tiefe, bis zum verwitterten Wellenbrecher und zu den Felsen, die sie bereits erwarteten.
    So oft war ich betrunken, und erst jetzt sehe ich zum ersten Mal die Welt im freien Fall, dachte Aliki, während sie hinabstürzte. Ihr letzter Gedanke war, daß ihr der Anblick gefiel.
     
     
    »Also, Sachen gibt’s!« meinte der junge Mann, der auf dem Dorfplatz die Zeitung las.
    »Was denn?« fragte die junge Frau an seiner Seite, mehr aus Pflichtbewußtsein denn aus Neugier.
    »Hör mal, was da steht: ›Gestern beging die Schriftstellerin Aliki Fotiadi Selbstmord. Ihre Leiche wurde im verlassenen Fischerdorf Nikia gefunden. Auf ihrem Notizblock fand man die Nachricht: Das Schreiben ist mein Leben. Kann ich nicht schreiben, habe ich kein Leben mehr. Ihr Verleger erklärte, Aliki Fotiadis letzte Bücher seien von der Kritik und vom Publikum nicht gut aufgenommen worden. Das habe die Autorin in eine tiefe Depression gestürzt.‹«
    »Na und? Was ist da seltsam dran?« fragte die junge Frau.
    »Denk doch mal nach!« rief der junge Mann erstaunt aus. »Wer bringt sich heutzutage wegen Büchern um?«
    Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee Frappé und schlug den Wirtschaftsteil der Zeitung auf.

Suite für Violine und Flöte
    Sein Standplatz war in der Fußgängerzone in der Chateaubriand-Straße. Ein seltsamer Standplatz für einen Schuhputzer. Denn die Handvoll, die in Athen übriggeblieben ist, wartet normalerweise auf der Panepistimiou-Straße auf Kundschaft.
    Wer im Binnenland um den Omonia-Platz läßt sich schon von einem Schuhputzer die Stiefel wichsen? So, wie er dasaß, schien auch er zu sagen: niemand. Die Arme auf die Knie gestützt lauschte er mit halb geschlossenen Augen einem Musikstück, das aus einem altmodischen Kassettenrecorder drang, einem Überbleibsel aus den achtziger Jahren. Die Töne erreichten mein Ohr nur dumpf, und ich konnte nicht einordnen, was für eine Musik es war. Jedenfalls keine griechischen Lieder, denen lauschte man nicht so hingebungsvoll. Erst als ich neben ihm anlangte, waren die Klänge deutlich zu hören, und allmählich erkannte ich den ersten Satz des Violinkonzerts von Mendelssohn.
    Athen ist immer für eine Überraschung gut. Zwar wird man niemals einen Taxifahrer sehen, der mit ausgeschaltetem Radio unterwegs ist, dafür gibt es Schuhputzer, die Mendelssohn hören. Vielleicht hat mich das dazu veranlaßt, meine Schuhe putzen zu lassen, und nicht die nostalgische Sehnsucht nach der guten alten Schuhwichse oder der Wunsch, eine vom Aussterben bedrohte Dienstleistung zu fördern.
    Als ich den Fuß auf die Ablage stellte, machte der Schuhputzer den Kassettenrecorder diskret leiser. Seine mittleren Finger hingen kraftlos in den Gelenken, als litten sie an Arthrose. Er hielt die Bürsten mit Daumen, Zeigefinger und

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