Ballade der Leidenschaft
Abreise Bescheid wüsste – vielleicht wäre sie nicht mehr so hartnäckig … Rozenn musterte die Damen, die sich rings um den großen Wandbehang versammelt hatten. Zweifellos war dies der falsche Zeitpunkt für solche Enthüllungen. Weder der Gräfin noch Ivona wollte sie dabei ein solches Publikum zumuten.
„Dafür bin ich Euch sehr dankbar, Comtesse, aber …“
„Freunde, die du sicher nur ungern verlieren würdest, meine Liebe.“
Beklommen schluckte Rozenn. Die Warnung war unmissverständlich. Doch sie bezwang ihr Unbehagen. Auch wenn sich der Moment kaum für die Bekanntgabe ihrer Zukunftspläne eignete – sie würde sich keinesfalls einschüchtern lassen. „In der Tat, Comtesse. Allerdings muss ich …“
„Wie ich höre, hinterließ dein Gemahl hohe Schulden. Hast du sie beglichen?“
Erleichtert atmete Rozenn auf. Nun befand sie sich auf ungefährlicherem Terrain. „Fast. Der nächste Markttag müsste mich von den restlichen Kerbhölzern befreien.“
„Gut.“ Comtesse Muriel lächelte. „Danach kannst du dich wieder ungestört deiner Näharbeit widmen – eine angemessenere Beschäftigung für eine junge Frau, als in einer Marktbude zu stehen. Zudem …“ Noch ein Lächeln, das diesmal Ivona galt. „Ich würde es ungern sehen, wenn die beste Schneiderin von Quimperlé am Hof meines Gemahls wegen ihrer Schulden festgenommen wird.“
Irritiert rutschte Rozenn auf ihrem Stuhl umher und hoffte, die Gräfin würde das Thema wechseln.
Lebhafte Lautenklänge lenkten alle Blicke auf Ben, der seinen Gesang in einem makellosen hohen Ton ausklingen ließ. Rozenn blinzelte. War das Lied nicht viel länger? Hatte er ein paar Verse ausgelassen?
„Verzeihung, Comtesse, was wollt Ihr jetzt hören?“, fragte er.
Oh Ben, Gott segne dich … Rozenn spähte über ihre Schulter und schenkte ihm ein Lächeln.
„Am liebsten eine Geschichte“, antwortete die Gräfin. „Erzählt uns von Tristan und Isolde.“
„Ach ja“, hauchte Lady Alis, während ihre blauen Augen glänzten, „diese Geschichte finde ich einfach wundervoll .“
Die Zähne zusammengebissen, fixierte Rozenn das Bild eines Ritters auf dem Wandbehang, damit sie nicht mit ansehen musste, wie Ben und das Mädchen, das er auf dem Heuboden getroffen hatte, verständnisinnige Blicke tauschten. Aber schließlich hielt sie es nicht mehr aus und hob den Blick wieder zu Ben.
Er hatte seine Laute auf die Knie gelegt. Und er sah Lady Alis nicht an. „Vor langer Zeit entschied König Marke …“, begann er.
Sobald seine verführerische Stimme das Sonnengemach erfüllte, verstummten alle Gespräche. Über dem Leinen erstarrten die Nähnadeln. Alle Köpfe, alte wie junge, wandten sich zum Herd. Rozenn kräuselte die Lippen. War denn niemand gegen seinen Charme gefeit?
Wie sie zugeben musste, besaß Ben eine hinreißende, zu Herzen gehende Stimme. Zumindest wurde sie jedes Mal davon ergriffen. Und angesichts seines Erfolgs und seiner Beliebtheit konnte sie wohl davon ausgehen, dass er andere Menschen genauso begeisterte. Sie nahm einen grünen Wollfaden und zog ihn durch ein Nadelöhr. Als sie näher zum Tisch rückte, knarrte ihr Schemel.
Missbilligend schnalzte Comtesse Muriel mit der Zunge.
Pardon , formten Rozenns Lippen, dann beugte sie sich über das Leinen.
Ja, Bens Stimme war vollkommen, klar und wohlklingend. Beinahe wirkte sie wie eine Liebkosung, als ob er sie mit seinen Fingern streichelte. Rozenn erinnerte sich an die letzte Nacht. Da hatte er an ihrem Tisch gesessen und ihre Hand berührt. So unbeschreiblich sanft. Auch jetzt glaubte sie, die Wärme seiner Fingerspitzen zu spüren. Als ob er ihre Hand an seine Lippen zöge … Als ob er sich über den Tisch geneigt hätte, mit der anderen Hand ihren Nacken umfasste, seinen Mund ihrem näherte …
Die Nadel stach sie in den Finger. Überrascht schnappte Rozenn nach Luft.
„Sei doch still, Rozenn.“ Die Gräfin runzelte die Stirn. „Und lass bloß kein Blut auf die Stickerei tropfen.“
Rozenn nickte ihr entschuldigend zu und saugte an ihrer blutenden Fingerkuppe. Was war nur los mit ihr? Nur weil Bens Stimme die halbe Bretagne betört, bedeutet das noch lange nicht, dass er auch mich mühelos verführen könnte …
Mittlerweile hatte sein Vortrag die Stelle erreicht, wo die Liebenden eng umschlungen im Wald einschliefen.
Da musste sie ihre ganze Willenskraft aufbieten, um die beunruhigende Vision von Bens Armen zu verdrängen, die sie umfingen.
Entschlossen dachte
Weitere Kostenlose Bücher