Ballade der Leidenschaft
zunächst vermutet hatte. Neben ihrem Ellenbogen stand eine Waschschüssel, und sie hatte ihren Schleier über die Schultern zurückgeworfen, damit er sie nicht behinderte. Sichtlich besorgt tauchte sie einen blutbefleckten Lappen ins Wasser, wrang ihn aus und tupfte behutsam das Gesicht des Knappen ab. Noch mehr Blut tränkte das Tuch.
Auf der Wange des Knappen – ein schlaksiger, etwa dreizehnjähriger Junge – klaffte eine böse Schnittwunde. Auch die Nase blutete, sah aber glücklicherweise nicht gebrochen aus. Die Fingerknöchel wiesen Schürfwunden auf, und seine grüne Tunika – fast in der gleichen Farbe wie Bens – war von der Schulter bis zur Taille zerfetzt, das Unterhemd zerrissen.
Der Ritter beobachtete Irene mit Argusaugen und trug eine finstere Miene zur Schau, was die auffällige Narbe über seinem Wangenknochen noch hervorhob. Kurzfristig überlegte Ben, ob der Mann seinen Knappen etwas zu grausam verprügelt hatte.
Doch der Zorn des Ritters schien sich nicht gegen den Jungen zu richten. Ben fing den Blick des Mannes auf, nickte ihm mitfühlend zu und setzt sich an den Tisch. Viele Ritter misshandelten ihre Knappen und bestraften das geringste Vergehen mit gnadenlosen Schlägen, aber offenbar gehörte dieser nicht dazu.
„Was ist geschehen?“ Ben ergriff ein Stück Brot in der Hoffnung, die beiden würden nichts gegen seine Anwesenheit einwenden, nachdem sie gestern Abend zwei Stunden lang seinem Gesang gelauscht hatten.
„Elende Bastarde!“, murmelte der Ritter und ballte die Hände. „Man hat Gien beim Stall aufgelauert.“
Mit einem Wimmern zuckte der Knappe vor Irene zurück. Über dem leichenblassen Gesicht stand sein Haar zu Berge, die hellen Augen wirkten fast durchscheinend. Der Blick, mit dem sie die Wirtin ansahen, war voller Angst. „Vielen Dank, Madame. So schlimm ist es nicht, und ich glaube nicht, dass die Wunde genäht werden muss. Bald wird sie heilen.“
Irene schüttelte entschieden den Kopf. „Überlass es mir, das zu beurteilen, Gien. Vielleicht hast du recht. Aber das kann ich erst feststellen, wenn ich das Blut weggewischt habe.“ Lächelnd fügte sie hinzu: „Du hast den Angriff dreier Männer überlebt. Und jetzt fürchtest du dich vor meinem Waschlappen? Heb dein Kinn.“
Achselzuckend gehorchte der Junge. An seinem Hals zeigte sich eine dünne rote Linie – ein Messer war ihm an die Kehle gehalten worden.
„So wie du aussiehst, kannst du von Glück reden, dass du noch lebst“, meinte Ben. „Diebe?“
„Bastarde“, murmelte der Ritter.
„Nein, Eudo, ich bin der Bastard“, widersprach der Knappe in bitterem Ton.
Dass er den Ritter nicht mit dessen Titel anredete, fiel Ben sofort auf. Das konnte zweierlei bedeuten: Entweder wollte er seinen Herrn ärgern, oder die beiden verband eine tiefe Zuneigung – was Ben wahrscheinlicher fand.
Gien zeigte auf die zerschnittenen Schnüre, die an seinem Gürtel baumelten und einmal eine Geldbörse gehalten hatten. „Wie Ihr gesagt habt, Monsieur – Diebe.“
In der grünen Tunika des Burschen klaffte ein ziemlich langer Riss. Bens Augen verengten sich. „Hast du viel verloren?“
„Viel hatte ich nicht zu verlieren“, seufzte Gien errötend. „Einen alten Dolch, den mir mein Vater geschenkt hat, einen Silberring von meiner Mutter …“ Sekundenlang brach seine Stimme, dann fasste er sich. „Und ein paar Deniers. Kaum der Mühe wert – habe ich gedacht.“
„Und die Kerle haben dir aufgelauert?“ Ben verspürte ein wachsendes Unbehagen. Am letzten Abend hatte jemand den Inhalt seines Ranzens durchsucht. Vielleicht ein Dieb. Oder es steckte mehr dahinter. „Waren sie hinter dir persönlich her?“
„Nein, nein“, erwiderte der Knappe. „Einfach nur mein Pech – zur falschen Zeit bin ich am falschen Ort gewesen. Ich wette, die Gauner haben auf reichere Beute gehofft.“
„Wäre ich bloß zum Stall gegangen!“, stieß Eudo hervor.„Ich hätte die Schurken in Stücke gerissen!“ Unbeholfen griff er über den Tisch hinweg und tätschelte Giens Arm. „Auf dem Markt werden wir die gestohlenen Sachen ersetzen, mein Junge.“
Herausfordernd sah er sich im Schankraum um, als wollte er jeden zur Rechenschaft ziehen, der es wagen mochte, einen Ritter zu verspotten, weil dieser seinem Knappen voller Mitgefühl begegnete. Dann nahm er die Hand von Giens Arm.
Behutsam wusch Irene dem Burschen das restliche Blut aus dem Gesicht. „So schlimm ist es wirklich nicht. Eine Zeit lang
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