Ballade der Leidenschaft
erstaunlich schnell in Schwarz über. Ein letzter türkisblauer Streifen färbte sich violett.
Die Dämmerung brach herein, eine englische Dämmerung. Der Geruch von Seetang stieg Rozenn in die Nase. Seile wurden ausgeworfen, ein Mann sprang auf den Landesteg, Trossen wurden um Boller geschlungen. Zu früh, dachte sie, Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Viel zu schnell sind wir in Bosham eingetroffen … In seinen Gedanken hat Ben mich bereits verlassen und ist in die Bretagne zurückgekehrt.
Nachdem sie die Pferde die Laufplanke hinabgeführt hatten, erkundigte er sich bei zwei normannischen Burschen, die Zweige in den Mühlbach warfen, nach einem Gasthaus. „Wahrscheinlich ist es besser, wir bleiben nicht zu nah am Hafen“, hatte er erklärt, „sonst werden wir noch von Seeleuten belästigt.“
Es fiel ihr schwer zu fassen, dass sie in England gelandet waren. So viele Normannen trieben sich hier herum, die Hälfte von Herzog Williams Heer – nein, hier in England hieß er König William, nicht mehr Herzog William, wie man ihn in der Bretagne genannt hatte.
Sie folgten der Straße, die ihnen die Jungen gezeigt hatten, und ritten an der Kirche vorbei, wo der Sachsenkönig Harold einst niedergekniet war, um zu beten. Seit Jahrhunderten stand sie da, zum Meer gewandt. Die winzigen Fenster im Turm glichen Augen, die auf die Masten hinabsahen. Durch eine eisenbeschlagene Eichentür drangen Choräle und wehten an den Eiben im Friedhof vorbei. In England klang die Abendmesse nicht anders als in der Bretagne.
Am Straßenrand passierten sie die Trümmer eines großen steinernen Gebäudes. Das Dach war verbrannt, ringsum lagen verkohlte Deckenbalken. Viele Mauersteine waren verschwunden, vermutlich, um Neues davon aufzubauen. Aber die Reste ließen erkennen, wie groß das Haus einst gewesen war. Jetzt war es nahezu dem Erdboden gleichgemacht worden.
Rozenn fröstelte. Hier sah sie die ersten offensichtlichen Spuren der jüngsten Kämpfe. Nach der Größe zu schließen, musste das Haus bedeutsam gewesen sein. Ihre Stute suchte sich einen Weg zwischen einigen Steinhaufen, die den Plünderern wohl entgangen waren. Im schwächer werdenden Licht der Abendsonne schimmerten kunstvolle Reliefs, schön genug für einen Palast.
„Ben?“
„Ja?“
„Du sagtest, Harold Godwinson habe in Bosham gelebt? Der Mann, der sich der englischen Krone bemächtigte?“
„Ja.“
Rose warf einen letzten Blick auf die Ruine. Vielleicht war das verbrannte Gebäude der sächsische Königspalast gewesen. Herzog – nein, König William hatte mit seiner Flotte den Krieg über dieses Gebiet gebracht. Und ihr Bruder Adam hatte an seiner Seite gekämpft. Sie drehte sich im Sattel um und beobachtete eine sächsische Frau, die sich ein Bündel Brennholz auf den Rücken gebunden hatte.
Auf welch grausame Weise war dieses Land erobert worden! Wie würden ihr die Einheimischen begegnen, einer Fremden aus der Bretagne? Sie war nur hier, weil ihr Bruder zu den Eroberern gezählt hatte …
Der Gasthof Buck’s Head war komfortabel, das Gemeinschaftszimmer sauber und gut ausgestattet, mit frischen Strohmatratzen. Trotzdem tat Rozenn kaum ein Auge zu. Die ganze Nacht drehten sich ihre Gedanken im Kreis, wie das Mühlenrad nahe der Kirche von Bosham. Immer wieder raschelte ihre Matratze, während sie sich umherwarf und einzuschlafen versuchte.
Ringsum erklangen gedämpfte Gespräche, in normannischem Französisch und auf Angelsächsisch. Die eine Sprache konnte sie verstehen, die andere war ihr fremd. Wenn sie hierblieb, würde sie Englisch lernen müssen. Sie war in England eingetroffen, aber ihr Traum von einer Ehe mit Sir Richard hatte sich in Nichts aufgelöst. Wie könnte sie ihn heiraten, wenn sie einen anderen liebte?
Vielleicht würde Adam sie in seiner Festung aufnehmen. Sie war eine fähige Näherin, besaß ein paar Münzen und geschäftliches Geschick. Möglicherweise würde die Gemahlin ihres Bruders, Lady Cecily, eine Näherin in ihrem Haushalt willkommen heißen.
Nur eine Armeslänge entfernt lag Ben im Schatten. Ja, sie würde hierbleiben und Englisch lernen. In England würde sie ein neues Zuhause finden, eine Rückkehr in ihr früheres Leben kam nicht infrage. Aber Ben – oh Ben …
Ihre Kehle schnürte sich zu. Fest kniff sie die Augen zu, um ihn nicht mehr zu sehen, und kämpfte mit den Tränen. Ben war nicht für sie bestimmt. In ein paar Tagen würde er Fulford verlassen. Niemals durfte er erfahren, wie qualvoll sie
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