Ballade der Liebe
versetzten, ehe der Vorhang sich hob.
„Können Sie sich vorstellen, eines Tages auf dieser Bühne zu singen?“, fragte Lord Tannerton.
Rose warf ihm einen erschrockenen Blick zu. Hatte Flynn auch darüber mit ihm gesprochen? Irgendwie erschien ihr das wie ein Vertrauensbruch. „Wieso fragen Sie?“
„Träumt nicht jede Sängerin davon, in King’s Theatre aufzutreten?“, meinte er achselzuckend. „Das haben mir jedenfalls andere Sängerinnen erzählt.“
Vielleicht hatte Flynn doch nicht all ihre Geheimnisse ausgeplaudert. Plötzlich nahm Rose wahr, wie Flynn sich hinter ihr mit Katy unterhielt, und sie wünschte, er würde laut genug sprechen, damit sie hören konnte, was er sagte.
Irgendwie war sie von Katy enttäuscht, die sich in Flynns Gesellschaft so wohlzufühlen schien.
Tannerton reichte Rose das Programm. „Hier, lesen Sie, wer heute singt. Ich bringe Ihnen eine Kerze, wenn es zu dunkel ist.“
Sie nahm den Programmzettel und richtete den Blick darauf, konnte zwar kaum etwas entziffern, aber es gab ihr den Vorwand, sich nicht unterhalten zu müssen. „Danke“, sagte sie mit einiger Verspätung und warf ihm einen flüchtigen Blick zu.
Der Marquess lächelte liebenswürdig. Er hatte eine jungenhafte Ausstrahlung, das musste sie zugeben. Und seinen angenehmen Umgangsformen fehlte jede Blasiertheit, wie sie Aristokraten so gern an den Tag legten. Er war hochgewachsen und athletisch gebaut. Irgendwie wirkte er in diesem eleganten Theater deplaziert, und Rose hatte den Eindruck, er fühle sich auf der Jagd wohler oder womit auch immer sich vornehme Herrschaften auf ihren Landsitzen zu beschäftigen pflegten. Er wirkte weder im Aussehen noch im Auftreten einschüchternd. Dennoch ermahnte Rose sich, die Warnung ihres Vaters zu beherzigen. Dieser Mann besaß die Macht, ihre ehrgeizigen Pläne zu durchkreuzen. Gebannt starrte sie wieder auf den Programmzettel.
„Ich glaube, die Vorstellung beginnt“,sagte Tannerton.
Sie blickte zur Bühne. Der Dirigent trat vor das Orchester, hob den Stab, und die Musiker warteten auf ihren Einsatz. Das Publikum indes interessierte sich offenbar keineswegs dafür, dass der Vorhang sich in wenigen Minuten heben würde. Alles plauderte und lachte ungeniert weiter. Und dann setzte die Musik ein, die Ouvertüre zu Mozarts Don Giovanni , eine dramatische Oper, die Rose nicht kannte.
Bald lauschte sie hingerissen den erhaben düsteren Klängen des Orchesters und vergaß alles um sich herum, auch den neben ihr sitzenden Marquess. Nie zuvor hatte sie ein so lebensechtes Bühnenbild gesehen; ihr war beinahe, als schaue sie durch ein Fenster auf ein wirkliches Geschehen. Und sie hörte Stimmen von einer Klangfülle, wie sie es kaum für möglich gehalten hätte. Große Stimmen, weitaus voller als die ihre, die dieses riesige Theater zu füllen vermochten. Bei der ersten Arie der Sopranistin wagte Rose kaum zu atmen, überwältigt von ihrem eindringlichen Tonfall, gemischt aus Sehnsucht und Schmerz. Und später hätte sie am liebsten mitgesummt, als die Sängerin ihre Koloraturen des Glücks einfügte und sich zu atemberaubenden Hochtönen emporschwang. So möchte ich auch singen können, schwärmte sie in ihrer stillen Verzückung.
Bedauerlicherweise verstand sie kein Wort der gesungenen Texte, war sich nicht einmal sicher, in welcher Sprache gesungen wurde. Aber das störte sie nur geringfügig, denn es war eigentlich nicht wichtig. Das Geschehen auf der Bühne allein machte den Verlauf der Geschichte deutlich, ein schockierendes Drama. Don Giovanni, ein skrupelloser Verführer, nimmt sich jede Frau, die ihm gefällt, stürzt Menschen bedenkenlos ins Unglück und schreckt nicht einmal vor Mord zurück. Auch die schöne Elvira erliegt dem Verführer, der sich ihre Gunst durch ein Eheversprechen erschleicht und sie dann treulos verlässt. Und Rose hörte den Zorn, die Demütigung in der Stimme der Sängerin in der Rolle der Donna Elvira, die Don Giovanni liebt und hasst. Rose hätte am liebsten mit ihr um den Verlust ihrer Liebe geweint. Es wäre überwältigend, wenn man seine Gefühle, Glück und Liebe, Schmerz und Trauer in seine Stimme legen und in die Welt hinaussingen könnte.
Als der Vorhang sich zur Pause senkte, war Rose benommen. Sie wollte weiter der Musik lauschen. Sie wollte zu diesen Sängern gehören, ihre Stimme mit ihnen erheben in einer berauschenden Klangwelt, die sie mit ihrer Kunst erschufen.
Ein Diener brachte ein Tablett mit Gebäck und Früchten
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