Ballast oder Eva lernt fliegen
ergriff die sich bietende Gelegenheit zur Revanche. Wie eine wütende Hornisse zwang sie den immer kleiner werdenden Holzmichel, zwei Passagen ganz aus dem Vertrag zu streichen und dafür einen anderen Passus neu aufzunehmen, der besagte, dass alle Marketingmaßnahmen mit Evas Agentin abgestimmt werden mussten. Als die beiden Frauen das Verlagshaus verließen, kochte Ariane noch immer vor sich hin, Eva fühlte sich gerächt und versöhnlich gestimmt und der alte Holzmichel durfte sich dankbar schätzen, dass er noch lebte.
„Du wirst meine Wohnung kaum wiedererkennen!“, versicherte Eva im Plauderton. „Ich fand es wunderbar, auf dem Boden zu essen. Ich glaube, das hat mich erst auf die Idee gebracht.“ Dann fing sie an aufzuzählen, was alles hatte weichen müssen.
„ Was sagt Bernd dazu?“, erwiderte Ariane kraftlos.
„ Er wird sich eben umstellen müssen!“, versetzte Eva fröhlich. Sie wusste, dass ihm das nicht leicht fallen würde. Bei Evas Geburtstagsessen hatte er stöhnend versucht, seine langen Beine in eine komfortable Haltung zu bringen, und dabei die Vorzüge abendländischer Möbel gepriesen.
„ Kommst du noch mit zu mir?“, fragte Eva, doch Ariane schüttelte den Kopf. „Geht jetzt nicht.“
Eva sah sie fragend an. Ariane errötete. „Heinrich wartet. Wir wollten heute mit den Einladungen für die Hochzeit anfangen.“
Am Freitag überprüfte Eva zum ersten Mal in dieser Woche den Anrufbeantworter ihres auf stumm geschalteten Telefons. Er war randvoll, fast ausschließlich mit Nachrichten von Bernd. Die ersten hörte sie an. Zunächst berichtete er vom – dank seiner Genialität überaus erfolgreichen – Auftakt der Sitzungswoche. Seine zweite Nachricht ließ erkennen, dass er sich zu fragen begann, wo sie steckte und was sie trieb. Dann kam Arianes müde Stimme mit dem Hinweis, dass Herr Holzmichel Eva kennen lernen wolle und die Schwangerschaft seit zwei Tagen buchstäblich zum Kotzen sei. Bernds dritter Anruf klang schon sehr verunsichert. Sie sei doch hoffentlich nicht zu ihren Mönchen nach Kathmandu zurückgekehrt? Eva lächelte und löschte die übrigen achtzehn Aufzeichnungen. Dann schrieb sie Bernd eine SMS, dass er sie am Wochenende zuhause antreffen könne.
Der volle Anrufbeantworter erinnerte Eva daran, dass sie seit ihrer Rückkehr aus Kathmandu kein einziges Mal ihre Emails abgerufen hatte. Seufzend fuhr sie Christians alten Rechner hoch, warf einen Blick auf die Absender und begann, alles zu löschen. Auch die Nachrichten von Bernd und Ariane, denn sie fühlte sich außerstande, sie alle zu lesen. Lediglich zwei schafften es, ihre Neugier zu wecken. Christian, der im Betreff „fast hättest Du mich verloren“ schrieb, berichtete von einer Exkursion ins australische Niemandsland, bei der er von einer Schlange gebissen wurde. Sie hatten Antiserum bei sich getragen, doch sein Freund reagierte besorgt, da er zu wissen glaubte, dass das Antiserum gerade bei dieser seltenen Schlangenart machtlos war. Obgleich die Existenz der Mail bewies, dass es ihrem Sohn längst wieder gut gehen musste, stockte Eva beim Lesen der Atem. Sie musste sich zurücklehnen, weil ihr schwarz vor Augen wurde und es in ihren Ohren rauschte. Christians Freund, ein waschechter Australier, hatte ihn gezwungen, sich ins Auto zu setzen und möglichst wenig zu bewegen, um ein rasches sich Ausbreiten des Gifts zu verhindern. Danach war er durch die wüste Landschaft gerast auf der Suche nach Empfang für sein Handy. Die eigentliche Rettungsaktion, „so richtig mit Hubschrauber und allem Drum und Dran“, hatte Christian dann nicht mehr bewusst miterlebt. Im Krankenhaus war er wieder zu sich gekommen, „mit einem Kater, als hätte ich allen billigen Fusel der Welt auf einmal ausgetrunken!“.
Christian hatte eine ganze Woche im Krankenhaus verbracht, also war die Sache passiert, als Eva in Nepal war. Plötzlich kam es ihr ganz unsinnig vor, dass sie sich auf der anderen Seite der Erdkugel befunden hatte, ohne ihren Sohn zu besuchen. Mehr noch: Hätte sie ihn besucht, hätte er diese unselige Exkursion verschoben oder ganz aufgegeben. Und dass sie überhaupt nichts gewusst hatte: Das sah doch ihrem Exmann ähnlich, oder etwa nicht? Verschwommen erinnerte sie sich, dass sie eben eine Mail von ihm ungelesen gelöscht hatte. Aber schließlich gab es zuverlässigere Möglichkeiten, jemandem eine wichtige Nachricht zukommen zu lassen. Wenn er gewollt hätte, hätte er sie erreichen können, selbst auf dem
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