Ballaststoff
sein kann.«
»Selbstverständlich, da haben Sie völlig recht«, stimmte Angermüller zu, während Jansen eine undurchsichtige Miene zeigte.
»Und stellen Sie sich vor: Heute Morgen seh ich in der Zeitung diese Anzeige vom Lubeca Country Golf Club, und da fällt es mir plötzlich wieder ein!«
Marianne Varelas hatte ein Auto vom Hof fahren sehen. An die genaue Uhrzeit erinnerte sie sich nicht mehr. Sie wusste nur, es war am späten Nachmittag jenes Sonnabends gewesen. Den Zeitraum grenzte sie zwischen vier und sechs ein. Aber sie wusste hundertprozentig, dass es ein kleiner, weißer Wagen war, mit einem ausländischen Nummernschild, auf dessen Fahrertür das Logo des Lubeca Country Golf Clubs prangte.
Seit Wochen war es das erste Mal, dass die Sommerhitze sich unangenehm anfühlte. Die Luft war drückend, und die Sonne stach vom Himmel. Zwischen den Johannisbeersträuchern tanzten kleine Insekten, und die Fliegen zog es magisch auf die schweißfeuchte Haut. Immer wieder schlug Gesche nach dem unangenehmen Gekrabbel, und Svenja pustete sich ein ums andere Mal eine dunkle Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht. Thea und Lisamarie, die sich erst eifrig zum Beerenpflücken angeboten hatten, war ziemlich schnell die Lust daran vergangen.
»Mama, schafft ihr das vielleicht auch allein? Können wir wieder spielen gehen?«, hatte Thea etwas kleinlaut gefragt.
»Aber natürlich!«, hatte Gesche gelacht. »Geht da hinten in den Schatten unter die Bäume. Ihr könnt euch ja wieder die große Wanne mit Wasser füllen, das ist doch eine gute Idee! Und bleibt in der Nähe, ja?«
»Das machen wir doch immer, Mama!«, hatte Thea etwas verwundert geantwortet. »Komm, Lisamarie, wir machen uns unsere Planschwanne fertig!«, rief sie ihrer Freundin zu. Und dann waren die beiden, von Nero mit großen Sprüngen begleitet, fröhlich zum Rasen unter den Obstbäumen gehüpft.
Als Gesche die Mädchen wenig später in ihren bunten Badeanzügen – die pummelige Lisamarie trug einen modischen Tankini – ausgelassen in der kleinen Wanne hüpfen und mit Wasser spritzen sah, gab es ihr einen leisen Stich ins Herz. Seit ihrem Gespräch mit Henning am gestrigen Abend war die Welt eine andere geworden, und sie konnte die badenden Kinder nicht mehr unbefangenen Geistes betrachten.
Henning und sie waren an den Strand bei Sierksdorf gefahren und hatten sich in den Sand gesetzt. Gesche musste ihm nicht einmal Fragen stellen. Henning hatte einfach angefangen zu erzählen. Und was sie zu hören bekam, hatte sie so gefangen genommen, dass sie ihre Zigarette, die sie sich angesteckt hatte, zu rauchen vergaß. Sie hatte deutlich gespürt, wie sehr Henning selbst unter seinem tagelangen Schweigen gelitten haben musste, denn nun floss es nur so aus ihm heraus. Doch so, wie sie es verstand, hatte er sich wohl auch in einem regelrechten Schockzustand befunden, der ihn gehindert hatte, sich zu offenbaren.
Als sie gehört hatte, was an jenem Sonnabend geschehen war, hatte sie plötzlich eine Art Lähmung überkommen, und es war, als ob ihr jemand eine Faust in die Magengrube gerammt hätte. Die Vorstellung, dass diese Dinge um sie herum passiert waren, ohne dass sie auch nur die geringste Ahnung davon gehabt hatte, erschreckte sie zutiefst.
Einerseits war es natürlich sehr einfühlsam von Henning gewesen, dass er sie nicht hatte belasten wollen mit seinem Wissen. Andererseits hätte er es ihr sofort sagen müssen. Schließlich war sie die Mutter, die ihr Kind vor allem Bösen beschützen und behüten wollte.
Auch hätte sie ganz andere Konsequenzen gezogen, hätte den Kerl sofort angezeigt und ihn dann ohne Gnade vom Hof gejagt.
Aber sie glaubte ihrem Mann. So verrückt sich die Geschichte auch anhörte, sie war sicher, dass Henning die Wahrheit gesagt hatte. Und so befand sie sich jetzt in einem merkwürdigen Grenzstadium zwischen Erleichterung und Entsetzen. Sie war dem Schicksal dankbar, dass ihre Ängste bezüglich ihres Mannes sich nicht bewahrheitet hatten. Und sie war erfüllt von Grauen darüber, dass ein Mensch, der unter ihrem Dach gewohnt und an ihrem Tisch gesessen hatte, die Nähe und das Vertrauen in der Gemeinschaft auf diese Weise mit Füßen treten konnte, ohne dass sie den geringsten Verdacht geschöpft hatte.
Die große Entscheidung, vor der sie und Henning jetzt standen, war, ob er seine Geschichte auch der Polizei erzählen sollte. Würden die ihm auch so einfach glauben, wie sie es getan hatte? Wem wäre damit
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