Ballnacht in Colston Hall
dann umgekehrt?”
“Nun, ist das dort nicht Sir Arthurs Haus?”
“In der Tat”, erwiderte Lydia. “Doch was soll ich dort?”
“Ja, wohnt Ihr denn nicht in diesem Haus?”
“Nein. Wie kommt Ihr auf diesen Gedanken?” Er wird doch nicht gesehen haben, dass ich von dort gekommen bin, dachte Lydia besorgt. “Ach, ich verstehe. Ihr haltet mich für eins seiner Hausmädchen, mit dem Ihr eine kleine Tändelei beginnen wollt.”
“Keineswegs”, entgegnete der Fremde ärgerlich. “Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand weniger den Eindruck einer Bediensteten vermittelt als Ihr. Ich nahm vielmehr an, dass Ihr Sir Arthurs Tochter seid, zumal ich Euch gestern Abend mit ihm sprechen sah.”
“Seine Tochter?” wiederholte Lydia ungläubig. War denn Sir Arthur schon so alt, dass sie wirklich und wahrhaftig seine Tochter sein konnte?
“Ach, jetzt verstehe ich!”, rief der junge Mann, der ihren Ausruf als Bestätigung seiner Vermutung angesehen hatte. “Ihr seid verheiratet und lebt nicht mehr daheim. Verzeiht meinen Irrtum. Sagt mir die Richtung, und wir sind im Handumdrehen am Ziel.”
“Ich bin weder verheiratet noch Sir Arthurs Tochter. Ich habe einfach nur einen Besuch gemacht.”
“Ihr seid nicht verheiratet?”
“Nein.”
“Dann bitte ich wiederum um Verzeihung.” Der junge Mann nahm sich nicht die Mühe, seine Freude über diese Mitteilung zu verbergen, lehnte sich aus dem Fenster und befahl dem Kutscher, den Wagen erneut zu wenden und in der ursprünglichen Richtung weiterzufahren. Dreimal habe ich das Mädchen bereits getroffen, dachte er, und jedes Mal waren wir ein Stück näher an Colston Hall. Sollte das nicht ein gutes Omen sein? Zweifellos waren sie beide dazu bestimmt, sich näher kennenzulernen. Noch wusste er nicht mehr von der Fremden, als dass sie sehr hübsch war, ein hinreißendes Lächeln hatte und vergnügt blitzende Augen – zumindest an den beiden ersten Malen. Heute allerdings schienen darin Tränen zu schimmern.
“Was fehlt Euch denn?” erkundigte er sich mitfühlend.
“Mir? Gar nichts. Wie kommt Ihr darauf?”
Der junge Mann strich mit dem Fingerknöchel unter Lydias Augen entlang, und diese Berührung ließ sie erschauern. Ein winziger glitzernder Tropfen hing an seinem Finger, als er ihn wieder zurückzog.
“Tränen?”
“Nein, Sir, nur Regentropfen.” Lydia war von der Schnelligkeit ihrer Antwort selbst überrascht. Wie hätte sie dem Fremden auch sagen können, dass er die Verkörperung all ihrer Träume war – Träume, die von jenem Mann in Colston Hall, der wie ein Unglücksbringer auf ihrer Familie lastete, zerstört worden waren.
“Regentropfen. Zweifellos.” Der Fremde lächelte. “Doch nun sagt mir, wo Ihr wohnt, und ich verspreche, Euch sicher bis an Eure Tür zu bringen. Oder würde mir Euer Papa mit einem Schießprügel hinterherlaufen?”
“Das kann er nicht, denn er ist tot.”
“Oh, das tut mir aufrichtig leid. Ich habe erst kürzlich meine geliebten Eltern verloren und kann Euern Kummer nachfühlen. Erlaubt mir, dass ich Euch mein Beileid ausspreche.”
“Danke, Sir. Sein Tod liegt zwar schon viele Jahre zurück, aber es ist immer noch schwer, sich damit abzufinden.”
Die Kutsche hatte sich inzwischen Colston genähert. Am Ende des Dorfes lag die Abzweigung zum Herrenhaus, und das Mädchen hatte immer noch nicht gesagt, welche Richtung eingeschlagen werden sollte.
“Ich könnte diese wundervolle Fahrt bis in alle Ewigkeit fortsetzen”, sagte der junge Mann träumerisch. “Wir könnten fahren und fahren, über Hügel und durch Täler, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang …”
“Die Pferde wären aber schon lange vorher am Ende ihrer Kräfte”, widersprach Lydia lachend.
“Oh nein, keineswegs. Es sind nämlich Zauberpferde, und das hier ist eine Zauberkutsche. Wir könnten bis hinein in das Weltall reisen und dabei alles voneinander erfahren – unsere Vorlieben und unsere Abneigungen. Ich zum Beispiel liebe Pflaumenstrudel und Stachelbeertorte, und ich hasse Scheinheiligkeit und falschen Stolz. Und Ihr?”
“Ihr redet Unsinn”, tadelte Lydia und lächelte dabei.
“Mag sein. Aber es hat sich gelohnt, Euch lächeln zu machen.” Der Fremde nahm ihr Kinn in die Hand und zwang Lydia, ihm in die dunklen Augen zu sehen. Sie waren wie tiefe Seen, die magisch anzogen und in denen man ertrinken konnte. “Ihr habt ein Lächeln, das verzaubert”, murmelte er. “Ein Lächeln, das einen Mann sich selbst vergessen
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