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Ballnacht in Colston Hall

Ballnacht in Colston Hall

Titel: Ballnacht in Colston Hall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Nichols
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lässt …”
    Lydia erbebte, denn sie ahnte, dass er sie jetzt küssen wollte, und sie hielt erwartungsvoll den Atem an. Unfähig, die Eindringlichkeit seines Blickes länger zu ertragen, schloss sie die Augen und spürte im selben Augenblick seine Lippen auf ihrem Mund. Aber es war nicht mehr als der Flügelschlag eines Schmetterlings. Seine Hand löste sich von ihrem Kinn und riss Lydia mit einer solchen Plötzlichkeit aus ihrer Entrückung, dass sie nach Atem rang.
    “Oh, wie konntet Ihr nur! Ich dachte, Ihr wäret ein Gentleman, sonst hätte ich nie und nimmer einen Fuß in Eure Kutsche gesetzt …”
    Der Fremde lachte. “Wirklich nicht? Ich denke vielmehr, ich wäre kein Gentleman gewesen, wenn ich Eure freundliche Einladung zu einem Kuss nicht angenommen hätte.”
    “Eine Einladung? Aber ich bitte Euch …”
    “Ja, ja, sie war unübersehbar. Und es war Euch doch auch nicht unangenehm, nicht wahr?”
    “N…nein.”
    “Das klingt nicht ganz überzeugt. Wollt Ihr es lieber noch einmal ausprobieren?”
    “Jetzt macht Ihr Euch aber über mich lustig.”
    Unvermittelt wurde der junge Mann wieder ernst. “Nein, meine Liebe, lustig vielleicht, doch nicht so, wie Ihr meint. Aber nun sage ich Euch, dass wir geradewegs ins Meer fahren werden, wenn Ihr mir nicht endlich verratet, wo Ihr wohnt.”
    Du lieber Himmel, ich kann ihn doch nicht daheim vorfahren lassen, dachte Lydia ratlos. Was würden Mutter und Annabelle sagen, wenn sie mit einem unbekannten Mann in einer Kutsche ankam? Nein, nein, das Leben war ohnehin schon verwickelt und schwierig genug, auch ohne dass man noch die Anwesenheit eines Fremden erklären musste – noch dazu eines Fremden, der sich ihres Herzens bemächtigt hatte. Da all ihre Treffen nur zufällig und flüchtig gewesen waren, glichen sie zärtlichen Träumen, in die die raue Wirklichkeit nicht eindringen sollte.
    “Ihr könnt hier anhalten”, sagte sie kurz entschlossen. “Ich werde ganz in der Nähe noch jemanden besuchen.”
    Der junge Mann befahl dem Kutscher anzuhalten und zog dann einen Regenschirm aus der Ecke hervor. “Hier, Mylady, nehmt wenigstens diesen Schirm, wenn Ihr mir schon nicht erlaubt, Euch nach Hause zu fahren.”
    “Aber wie soll ich ihn denn zurückgeben?”
    “Oh, wir werden uns ganz bestimmt wieder begegnen. Das ist eine Fügung des Schicksals. Bis dahin behaltet ihn nur.”
    Dankend nahm Lydia den nützlichen Regenschutz entgegen, stieg aus und blickte dann nachdenklich der in der Ferne verschwindenden Kutsche nach. Wo mochte der Fremde hinfahren? Wer war er eigentlich? Und würden sie sich wirklich wieder einmal treffen? Vielleicht hätte sie ihm sagen sollen, dass sie Sir Arthur heiraten würde. Dann wäre er wahrscheinlich in Bezug auf die Fügung des Schicksals nicht mehr ganz so sicher gewesen. Und wollte sie ihn denn trotzdem wiedersehen? Oh ja, sie wollte. Sogar sehr gern.
    Langsam schritt sie den Weg entlang, der zu dem Witwensitz führte, und hielt dabei den Schirm über den Kopf, obwohl er ihre weiten Röcke kaum vor der Nässe schützte. Aber was machte das schon? Ihre Gedanken waren bei einem jungen Mann mit dunklen Augen und einem lächelnden Mund – einem Mund, der ihre Lippen berührt hatte, und sei es auch nur so kurz gewesen.
    Daheim angekommen, lehnte sie den Regenschirm sorglich an die Wand, nahm ihren Umhang ab und hängte ihn an einen Haken. Die Mutter hatte ihr Kommen gehört und trat aus dem Wohnzimmer. “Lydia, wo bist du nur gewesen? Und wo hast du dieses Ding her?” Sie wies mit einem spitzen Finger auf den Schirm. “Du hast ihn doch nicht etwa gekauft?”
    “Nein, nein, Mama, ich habe ihn nur ausgeborgt. Ich bin in der Bibliothek in Malden gewesen, wie ich gesagt habe. Und ich habe Sir Arthur einen Besuch abgestattet. Er bat mich in seinen Salon und bot mir Tee an. Er hat diese modernen Tassen mit einem Henkel daran. Das ist viel angenehmer als Schalen. Man verbrennt sich auf diese Weise nicht die Finger”, plapperte Lydia drauflos.
    Doch die Mutter ließ sich von Sir Arthurs modernen Teetassen nicht ablenken. “Du warst allein bei Sir Arthur, Lydia?”
    “Nun, warum nicht?” Lydia folgte der Mutter ins Wohnzimmer und ließ sich auf dem Sofa nieder. “Ich sah durch das Tor auf die Auffahrt und wurde neugierig. Ach, schau mich doch nicht so ärgerlich an. Das Grundstück wirkte völlig verlassen, und ich dachte, Sir Arthur sei nicht daheim …”
    “Aber er hat dich gesehen? Lydia, was mag er nur gedacht

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