Ballnacht in Colston Hall
von Colston Hall vorbei, ohne einen Blick auf die Fenster des schlossartigen Gebäudes zu werfen, falls der Hausherr anwesend war, und schlug dann den schmalen Pfad ein.
Im Wald war es düster, und von den Bäumen tropfte der Regen auf ihre Schultern. Die vorjährigen Blätter unter ihren Füßen waren durchnässt, und die Luft roch modrig. Die Atmosphäre passte zu ihrer Stimmung. Doch schon begannen hier und da die ersten Vögel das Ende des Regens zu begrüßen, und irgendwo in der Ferne quakte ein Frosch. Nach dem langen Winterschlaf kehrt das Leben eben immer wieder zurück – warum nur dauert mein Winter ewig, dachte sie bedrückt.
Sie hatte diesen Weg lange nicht mehr benutzt, wohl seit dem vergangenen Sommer nicht mehr, und so bemerkte sie nicht, dass der ursprüngliche Pfad überwachsen und stattdessen ein neuer angelegt worden war. Zu ihrer Überraschung fand sie sich plötzlich auf einer kleinen Lichtung wieder, in deren Mitte eine halb zerfallene Hütte stand. In dem Augenblick, da Lydia aus dem Schatten der Bäume trat, brach ein Sonnenstrahl durch die Wolken und fiel auf die winzigen, zersprungenen Fensterscheiben, in denen sich Wald und Himmel spiegelten.
Ein freudiges Lächeln erhellte ihre Miene. Das war doch der Ort, an dem sie als Kinder zu spielen pflegten! Rasch schritt sie auf die Hütte zu, hielt indes kurz davor überrascht inne. Die alte Tür, die damals schief in den Angeln hing und immer offen stand, war durch eine neue ersetzt und fest verriegelt worden. Offensichtlich waren spielende Kinder hier nicht mehr willkommen. Oh ja, sie befand sich ja unbefugterweise auf
seinem
Land, und die fröhliche Kinderzeit war für immer vorbei. Resigniert wandte sich Lydia zum Gehen und fuhr erschrocken zusammen. Keine zehn Fuß entfernt stand der Fremde, im Reitrock, barhäuptig und ohne Perücke. Seine Miene war finster.
“Mir scheint, Ihr macht Euch einer Übertretung schuldig”, sagte er ernst und kam auf Lydia zu.
“Wenn ich etwas Gesetzwidriges tue, dann tut Ihr es ebenfalls.”
“Darum geht es jetzt nicht. Der Aufenthalt hier ist gefährlich.”
“Gefährlich? Wieso?”
Der junge Mann wies mit dem Kopf zur Hütte. “Diese Unterkunft wird von Schmugglern benutzt.”
“Von Schmugglern?” wiederholte Lydia neugierig. “Wirklich?”
“Ja. Den Beweis dafür kann jeder in Augenschein nehmen.”
“Und warum sollte das gefährlich sein? Eine Handvoll sogenannter Freihändler wird sich wohl kaum für mich interessieren.”
“Ja, wenn es nur eine Handvoll ist. Aber manche dieser Banden sind bösartig und lassen sich bei ihrem schändlichen Tun von niemandem stören. Ihr wäret gut beraten, wenn Ihr diesen Wald in Zukunft meiden würdet.”
“Bei hellem Tageslicht? Oh, Sir, Ihr beliebt zu scherzen.”
“Das ist keine Angelegenheit, um seinen Scherz damit zu treiben. Wenn Ihr irgendetwas darüber wisst, dann solltet Ihr es mir schleunigst mitteilen. Wer sind diese Kerle? Wann werden sie wieder hier erwartet?”
Warum ist er nur so ärgerlich, fragte sich Lydia. Bei all ihren vorherigen Treffen war ihre Unterhaltung unbekümmert und fröhlich gewesen, hatte von Nymphen gehandelt, von Sternen und von Regenschirmen. Und nun dieser durchbohrende Blick! Sie versuchte zu lachen.
“Sehe ich etwa aus wie eine Schmugglerin?”
“Sie kommen in jeder Aufmachung und Gestalt.” Noch während Ralph diese Worte aussprach, sagte er sich, dass die Schmuggler unbedingt ortsansässige Leute sein mussten, denn wem sonst war die Existenz dieser verfallenen Hütte bekannt. Wieder huschte dabei flüchtig die Erinnerung an ihre Kinderspiele durch seinen Kopf. Sie waren damals zu dritt gewesen. Freddie befand sich im Ausland. Blieb noch Lydia. Als Kind hatte sie alle Dummheiten mitgemacht, die die Jungen sich ausdachten, ein richtiger Wildfang. Aber musste das zwangsläufig bedeuten, dass sie auch als Erwachsene ein ähnliches Benehmen an den Tag legte?
“Ach so! Jetzt verstehe ich. Ihr seid wahrscheinlich ein Zolleinnehmer”, unterbrach Lydia seine Überlegungen. “Nun, wenn dem so ist, muss ich Euch enttäuschen. Ich habe keine Ahnung von Schmuggel oder von Schmugglern.”
So weiß sie also tatsächlich nicht, wer ich bin, dachte Ralph. Aber ich kenne sie jetzt! Die Erkenntnis hatte ihm gedämmert, als er sie lächelnd auf die Hütte zulaufen sah. Warum war er nur nicht eher darauf gekommen? Es hatte wahrscheinlich an den entfernteren Orten gelegen, an denen er sie getroffen hatte. Chelmsford
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