Ballnacht in Colston Hall
war zu weitab gewesen, um eine entsprechende Vermutung zu wecken, und auch noch in Malden hätte er nie für möglich gehalten, dass sie sich früher schon einmal getroffen hatten. Aber in Colston? In seinem eigenen Dorf? Wieso war ihm da noch kein Licht aufgegangen?
Ja, in der Kutsche hatte ihn dieser Gedanke durchzuckt. Doch er war überzeugt gewesen, dass er spüren würde, wenn ihm ein Feind gegenübersaß – dass eine innere Stimme ihn warnen würde. Damals jedoch hatte seine innere Stimme geschwiegen. Heute aber, auf dieser Lichtung, war die Zeit plötzlich in rasender Eile rückwärts gelaufen. Er war wieder ein Junge und sie ein Kind, das er ertrug, weil es die Schwester des Freundes war und es Spaß machte, die Kleine zu necken.
Er starrte sie an. Langsam verblasste das Bild des Kindes, und eine junge Frau trat an seine Stelle – eine junge Frau, die ihn im Regen bezaubert hatte. Sie atmete hastig. Ihr schönes ovales Gesicht war gerötet. Ihr bronzefarbenes Haar schimmerte wie Seide. War sie ein Engel oder eine Hexe?
“Also, warum seid Ihr dann hierhergekommen?” Seine Stimme war rau und heiser.
“Ich habe doch schon gesagt, dass ich nichts weiß”, erwiderte Lydia trotzig und noch immer ein wenig verwirrt über seine Veränderung. “Meine Anwesenheit hier ist reiner Zufall.”
“Zufall?” Ralph lachte böse. “Es muss ein merkwürdiger Zufall sein, der ein Mädchen an einen so verborgenen Ort führt, von dem aus man nur noch hinaus ins Moor kommt, wo Schmuggler bequem ihre Konterbande verbergen können.”
Ich sollte jetzt weggehen, dachte Lydia. Ich sollte mich entschuldigen und ihn verlassen. Aber sie konnte nicht. Sie hatte das Gefühl, als hindere sie ein Zauberbann daran, ihren Willen umzusetzen. “Ich bin über einen Pfad auf der anderen Seite des Waldes gekommen”, erklärte sie. “Aber als Fremder in dieser Gegend werdet Ihr ihn nicht kennen. Ich warne Euch jedoch. Wenn der Earl of Blackwater Euch hier findet, habt Ihr nichts zu lachen. Er ist alles andere als ein versöhnlicher Mensch.”
“So, ist er das?”
“In der Tat.”
“Ihr kennt ihn wohl gut?”
“Gut genug.”
“Glaubt Ihr, er weiß, dass sich Schmuggler in seinem Wald aufhalten?”
Lydia hob die Schultern. “Vielleicht. Aber es ist ihm möglicherweise gleichgültig. Es ist doch allgemein bekannt, dass der Adel ein Auge zudrückt, wenn er als Gegenleistung ein Fässchen französischen Weinbrand erhält, eine Korbflasche Burgunder oder ein Säckchen indischen Tee. Und es ist mir bekannt, dass gerade er nicht abgeneigt ist, das Gesetz zu brechen.”
Ralph wurde so wütend, dass er sie am liebsten gepackt und geschüttelt und ihr ins Gesicht gesagt hätte, dass er ihretwegen hatte zehn Jahre im Exil leben müssen. Jawohl, Euretwegen, Miss Lydia Fostyn. Sie hatte ihren Vater alarmiert, damit er sich auf den Weg zum Duellplatz machte. Wenn er nicht gekommen wäre, dann wäre sein Schuss in die Luft gegangen und niemandem ein Leid geschehen. Er und Freddie hätten ihren Streit begraben und festgestellt, dass keine Frau der Welt die Zerstörung ihrer Freundschaft wert war. Und damit wäre alles wieder in Ordnung gewesen. Stattdessen …
Unwillkürlich hatte er Lydias Schultern ergriffen, anfangs wohl tatsächlich in der Absicht, ihr das alles vorzuhalten. Doch dann neigte er sich hinab und fand ihren Mund.
Es war ein harter und grausamer Kuss. Er wollte verletzen, und er tat es auch. Bestürzt, aber keineswegs verängstigt bäumte sich Lydia in seinen Armen auf, trat mit den Füßen nach ihm. Doch er hielt sie nur noch fester, entschlossen, sie zu bestrafen in der einzigen Art, die ihm dafür angemessen schien. Als ihm endlich der Atem versagte, stieß er sie wieder von sich.
Sie sank in das feuchte Moos und begann, leise zu schluchzen. Nichts hatte sie auf eine solche Wendung vorbereitet. Ihre früheren Begegnungen waren so vergnüglich und voll sanfter Gelassenheit gewesen. Er hatte ihr geschmeichelt und ganz, ganz zart ihre Lippen berührt. Er hatte ihr seinen Regenschirm geliehen und erklärt, sie würden sich wiedersehen, weil die Vorsehung es so bestimmt hatte. Wie konnte ein Mann so etwas sagen und dann so grausam sein? Er war ja genauso schlecht wie der neue Herr von Colston Hall.
Bei diesem Gedanken presste sie entsetzt die Hand auf ihre Kehle. Er war der Earl of Blackwater! Er war dieser schurkische Kerl! Warum, oh, warum hatte sie ihn nicht früher erkannt? Dann hätte sie sich ihre glücklichen
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