Ballnacht in Colston Hall
und führte sie auf die Tanzfläche, wo man gerade zum Menuett Aufstellung genommen hatte.
“Wie könnt Ihr es wagen …!”, flüsterte Lydia wütend.
“Oh, ich hatte eigentlich Dankbarkeit von Euch erwartet.”
“Wofür?”
“Weil ich Euch vor einem schrecklichen Fehlgriff bewahrt habe.”
“Ich weiß nicht, was Ihr meint.”
“Das glaube ich Euch nicht. Sir Arthur, der nicht Euer Vater ist, wie wir bereits festgestellt haben, führt Euch mit einem unverhohlenen Eigentümerstolz vor, den ich störend finde, zumal das Gerücht umgeht, er wolle sich wieder verheiraten.”
“Und was stört Euch daran? Es ist doch nicht Eure Angelegenheit.”
“Wollt Ihr damit sagen, Ihr wollt diesen … diesen … ach, mir fehlen die Worte.”
Gegen ihren Willen musste Lydia lachen. “Das passiert Euch sicher zum ersten Male.”
Doch Ralph war nicht zum Scherzen aufgelegt. “Also, wollt Ihr oder wollt Ihr nicht?”, fragte er ärgerlich.
Nun machte Lydia den Fehler, in seine Augen zu blicken. Die Sanftheit ihres Ausdrucks verwirrte sie. Ihr Herz begann zu klopfen, und die Kehle war ihr wie zugeschnürt. “Was will ich?” stieß sie mühsam hervor.
“Wollt Ihr Sir Arthur heiraten?”
“Da müsste er mir ja erst einen Antrag machen.”
“Sehr gut. Ich bin offensichtlich noch zur rechten Zeit gekommen.”
“Aber ich glaube, er wird es noch tun, bevor der Abend zu Ende ist.”
“Das ist keine Antwort auf meine Frage. Wollt Ihr ihn heiraten?”
“Ja”, erwiderte Lydia störrisch.
Ralph neigte seinen Kopf so nahe an ihr Ohr, dass sein warmer Atem ihre Haut streifte und erregende Schauer über ihren Rücken rannen. “Lügnerin”, flüsterte er.
Ich hasse, hasse, hasse ihn, sagte sich Lydia, und die Schauer auf meinem Körper kommen von dem Zorn auf ihn. Aber immer wieder kam ihr die Erinnerung an jenen Fremden, der so freundlich, so charmant gewesen war. Welche dieser beiden Personen zeigte Ralph Latimers wahres Gesicht? Der Teufel oder der attraktive Krösus? Wenn er ein Teufel war, so hatte er keine Hörner und keinen Pferdefuß, sondern weiche Lippen und forschende Augen, die bis in ihr Herz blicken und es schneller schlagen lassen konnten. Was mochte er gefühlt haben, als er erkannte, wer sie war? Wie lange wusste er es schon? Hatte er damals mit ihr gespielt? Oder spielte er jetzt?
Aber jede ihrer Begegnungen war doch rein zufällig gewesen. Er konnte weder gewusst haben, dass sie zu dem Vortrag gehen, noch dass sie Sir Arthur einen Besuch abstatten würde. Und schon gar nicht hätte er voraussehen können, dass sie an jenem regnerischen Tag durch den Wald gehen würde. Demzufolge hatte er die Zusammentreffen nicht arrangiert, sondern sie waren das Werk eines grausamen Schicksals gewesen – grausam, weil sie diesen Mann nicht mehr vergessen konnte. In ihrem Kopf mischten sich zornige Gedanken mit einem merkwürdigen Verlangen, das sie nicht begreifen konnte.
Ralph erkannte ihre Unsicherheit am Ausdruck ihrer Augen und fragte sich, woran sie wohl denken mochte. Mit Sicherheit nicht an Sir Arthur. Erinnerte sie sich vielleicht an den unerfreulichen Auftritt im Wald? Ach, wenn er ihn nur ungeschehen machen könnte! Er musste verrückt gewesen sein. Doch was würde es schon ändern, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte. Sie war und blieb seine Todfeindin, und man verliebte sich nicht in seine Todfeindin. Wer aber hatte sie dazu gemacht? Ganz allein sie selbst. Wenn es nach ihm ginge, wären sie keine Feinde. Ob sie wirklich die Ehe mit Sir Arthur schließen würde?
Gegen seinen Willen begann Lydia, ihm leid zu tun. Der Verlust von Vater und Bruder musste schon schwer genug gewesen sein für ein Kind, das noch nicht begreifen konnte, was geschehen war. Und nun sollte sie einen Mann in vorgerückten Jahren mit einer Schar alberner Töchter heiraten. Warum erlaubte Mrs Fostyn so etwas? Dieser Schuss – dieser einzige Schuss aus einer Duellpistole hatte so viele Leben zerstört.
Sein Exil in Indien war nichts gewesen im Vergleich zu den Leiden von Mrs Fostyn und ihren Kindern. Sein Vater hatte ihm Geld schicken können, das – gut angelegt – sich beträchtlich vermehrt hatte. So gesehen war sein Leben erträglich, wenn nicht sogar glücklich gewesen. Lydia Fostyn aber war nicht glücklich. Was konnte er indes dagegen tun? Wie konnte er all das Unrecht der Vergangenheit wieder ins rechte Lot bringen? Und warum hatte er ihr Leiden noch durch sein unmögliches Betragen verstärkt?
“Tut es
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