Ballnacht in Colston Hall
verrätst, worum es geht”, erwiderte Lydia, obwohl sie den Grund ahnte. Wahrscheinlich hatte jenes boshafte Gerücht schon die Ohren von Lord und Lady Baverstock erreicht.
Genauso wie vor zehn Jahren hatte sich der ganze Ort wiederum in zwei Lager geteilt, nur dass jetzt ein weiterer Umstand hinzugekommen war, nämlich das Gerücht, der verstorbene Earl und Mrs Fostyn seien ein Liebespaar gewesen. Freddie Fostyn habe es herausgefunden und die Ehre seiner Mutter verteidigen wollen. Das sei auch der Grund dafür gewesen, dass der Pfarrer auf dem Duellplatz erschienen war. Er hatte angenommen, dass sich sein Sohn mit dem alten Earl schlagen wollte, und wollte den Kampf selbst aufnehmen, um jenen Mann zu töten, der ihm Hörner aufgesetzt hatte. Ralph Latimer habe sich nur eingemischt, um seinen Vater zu schützen – eine durchaus überzeugende Geschichte, wie Lydia beim Zuhören feststellte. Aber wie war es möglich, dass die Mutter nichts davon erfahren hatte?
“Sie sagen so schreckliche Dinge über den alten Earl und Mama”, jammerte Annabelle.
“Wer?”
“Jeder. Caroline Brotherton hat es mir gesagt. Sie gehört zu denen, die das Gerücht verbreitet haben, denn sie denkt, dass Perry sie heiraten wird, wenn sie mir die Chancen verdirbt. Und ihre Familie hat ja kistenweise mehr Geld … Oh, Lydia, was soll ich nur tun?” Erneut brach Annabelle in Tränen aus.
Caroline hatte Annabelle am vergangenen Sonntag nach dem Kirchgang zum Tee eingeladen, und Annabelle war sehr glücklich darüber gewesen, weil es die erste Gelegenheit für einen offiziellen Auftritt an der Seite von Peregrine Baverstock werden sollte. Und nun das!
“Wenn Perry auf solchen Klatsch hört, dann ist er deiner nicht wert”, erklärte Lydia.
“Perry kann nichts dafür. Er würde mich in jedem Falle heiraten, sagt er. Aber er kann es nicht wagen, weil ihn seine Eltern sonst ohne einen Schilling vor die Tür setzen würden.”
“Es tut mir schrecklich leid, Annabelle”, erwiderte Lydia. “Nun, ich denke, das Geschwätz wird sich bald wieder legen. Ich hoffe das ganz inständig, denn Mama wäre schrecklich unglücklich, wenn sie davon erführe.”
“Es würde sich legen, wenn du Sir Arthur heiratest.” Annabelle nickte eifrig. “Du musst schnell mit ihm einig werden, bevor er hört …” Sie hielt inne und sah die Schwester eindringlich an. “Lydia, du hast ihm doch nicht etwa einen Korb gegeben, weil er Eure Verlobung bei dem Ball nicht bekannt gegeben hat?”
“Nein, nein, er wollte mir nur mehr Zeit zum Überlegen einräumen.”
“Überlegen! Was gibt es da noch zu überlegen? Es war zwischen ihm und Mama alles abgesprochen, aber du hast darauf bestanden, ihn hinzuhalten. Und das ist nun das Ergebnis! Wenn ihm die Gerüchte zu Ohren kommen, dann ist er es, der noch Zeit hat – Zeit, um seine Meinung zu ändern und seinen Antrag zurückzuziehen.”
Tief in ihrem Innern wünschte sich Lydia, dass er es tun möge. Aber sie wusste zugleich auch, dass es eine Katastrophe für die Familie wäre.
“Lydia, du willst ihn doch heiraten, nicht wahr?” drängte Annabelle weiter. “Du hast es schließlich gesagt. Und wenn Lord und Lady Baverstock sehen, was du für eine gute Partie gemacht hast, dann werden sie Perry auch erlauben, mich zu heiraten.”
“Du scheinst dir da sehr sicher zu sein.”
“Das bin ich auch … Perry hat es mir gesagt.”
“Wenn Ralph Latimer nicht zurückgekommen wäre, dann wäre das alles nicht passiert”, sagte Lydia ärgerlich. “Und auch jetzt noch könnte er die Gerüchte aus der Welt schaffen, wenn er nur wollte. Er könnte öffentlich erklären, dass alles seine Schuld war und die Angelegenheit nichts zu tun hatte mit Mama und dem alten Earl. Aber er schweigt.”
Tatsächlich aber schwieg er nicht nur, sondern war gänzlich von der Bildfläche verschwunden. Lydia hatte ihn seit jenem Ballabend vor einer Woche nicht wiedergesehen. Eine ganze Woche war vergangen, nachdem sie ihm ins Gesicht gesagt hatte, dass sie sich nichts dringlicher wünsche als seine Abwesenheit. Und nun hatte er sie offensichtlich beim Wort genommen. Es war eine schreckliche Woche gewesen, die noch schwerer ertragbar wurde durch die Tatsache, dass sie mit niemandem über ihren Kummer reden konnte, denn sie wusste weder, wie sie ihn in Worte fassen sollte, noch wollte sie die Mutter unnötig aufregen. Unter keinen Umständen
wollte
sie Sir Arthur heiraten – sie musste es. Aber das hatte sie auch schon vor dem
Weitere Kostenlose Bücher