Ballnacht in Colston Hall
was man in diesem Teil des Landes unter Hautevolee versteht, zu diesem Abend bitten.” In seinen letzten Worten schwang ein geringschätziger Ton mit, der auf Lydia aber keinen Eindruck machte.
“Bei einer so kurzfristigen Benachrichtigung fällt mir niemand ein”, erwiderte die Mutter. “Für meine Töchter und Lord Fostyn reicht die Zeit nicht aus, obwohl sie ganz bestimmt zur Hochzeit kommen werden.”
“Und der Earl of Blackwater?”
“Nein”, sagte Lydia kurz.
Zufrieden lächelnd sah Sir Arthur sie an. “Ihr scheint Seiner Lordschaft nicht sehr geneigt zu sein, meine Liebe? Nun, ich kann Euch deshalb keine Vorhaltungen machen, denn ich mag ihn auch nicht übermäßig. Doch wenn ich ihn ausschließe, würde es den Gerüchten nur neue Nahrung geben. Wir müssen in dieser kleinen Gemeinde lernen, miteinander in Harmonie zu leben.”
“Ja, natürlich”, beeilte sich die Mutter zuzustimmen. “Ich habe persönlich nichts gegen Seine Lordschaft, und Lydia wird ihre Abneigung überwinden, wenn sie erst merkt, welches Glück es für sie ist, dass Ihr sie vor bösen Zungen schützt.”
“Dann erlaube ich mir, mich jetzt zu verabschieden, und freue mich auf Euern Besuch am Freitag in einer Woche.”
Alle erhoben sich. Sir Arthur verbeugte sich vor Mrs Fostyn, drückte einen Kuss auf Lydias Handrücken und wurde von Janet zur Tür geleitet. Als das Geräusch der abfahrenden Kutsche erklang, sanken Mutter und Tochter erleichtert in ihre Sessel – die Mutter, weil es ihr gelungen war, Sir Arthurs Bedenken zu zerstreuen, und Lydia, weil ihr künftiger Ehemann endlich das Weite gesucht hatte.
Aber wie sollte es nur in Zukunft weitergehen? Könnte sie es ertragen, Tag für Tag mit ihm zusammen sein zu müssen? Vielleicht würde wenigstens ihr neuer Reichtum ihr einige wenige Freiheiten bescheren und die Möglichkeit, hin und wieder etwas tun zu können, was ihr Freude machte.
Noch eine Woche Ungebundenheit lag vor ihr, und sie musste versuchen, so viel wie möglich daraus zu machen. Sie würde zum Einkaufen nach Chelmsford fahren, alte Freunde besuchen, lesen und mit Hektor weite Spaziergänge unternehmen.
Am Tag vor der Abendgesellschaft bei Sir Arthur wanderte Lydia mit Hektor durch das Dorf und dann über einen ausgetretenen Pfad, der durch das Sumpfgebiet zum Meer führte. Es gab viele solcher Wege, und Lydia, die ihr ganzes Leben hier verbracht hatte, kannte sie alle.
Als sie den Strand erreicht hatte, blies der kräftige Seewind ihr die Röcke gegen die Beine. Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete tief die frische, salzige Luft ein, so wie sie es schon als Kind getan hatte. Damals war sie vergnügt und sorgenfrei gewesen. Manchmal hatte sie mit ihren Schwestern Haschen gespielt, oder sie hatten den Schiffen nachgeschaut, die die Küste entlang nach London segelten oder zu den Häfen im Osten, und zu raten versucht, was sie geladen hatten. Manchmal kam sogar ein Kriegsschiff vorbei, und Lydia durchsuchte dann die Zeitung nach Meldungen über eine Seeschlacht.
Hin und wieder näherten sich angeblich des Nachts auch heimlich unbeleuchtete Schiffe dem Meeresufer und setzten Boote aus, die Konterbande an Land brachten. Freddie hatte oft erzählt, dass er aus seinem Fenster Lichtzeichen zwischen Land und See beobachtet habe. Er schlich sich dann durch die Hintertür aus dem Haus, um nachzusehen, was dort vor sich ging. Seine Berichte klangen sehr aufregend, und Lydia bewunderte dann immer seinen Mut.
Während des Krieges wurden weniger Schmuggelgeschäfte mit Frankreich getätigt, und es beteiligte sich auch niemand im Dorf daran, denn sie waren alle gute Patrioten. Doch man erzählte sich ängstlich flüsternd, dass nicht in erster Linie Tee und Branntwein an Land gebracht werde, sondern vor allem Spione, die im Verborgenen ihrem unheilvollen Tun nachgingen.
Lydia kniff die Augen zusammen, um die Masten an einem in der Ferne vorüber segelnden Schiff zu zählen, aber es war zu weit entfernt. Währenddessen spielte Hektor mit einem alten Kleidungsstück, das die Brandung an Land gespült hatte.
“Lass das, Hektor!”, rief sie. “Komm, wir müssen nach Hause.” Aber der Hund ließ sich nicht abhalten. Seufzend ging sie näher und sah, dass er an einer braunen Lederjacke, wie sie die Austernfischer zu tragen pflegten, herumschnupperte. Furchtsam blickte sie um sich, ob nicht vielleicht der dazugehörige Körper irgendwo lag, aber es war nichts zu sehen außer einem halben Dutzend Männern, die
Weitere Kostenlose Bücher