Ballnacht in Colston Hall
Mutter richtete sich ruckartig auf. “Lydia, du musst nach Colston Hall gehen und den Earl um Hilfe bitten. Er wird wissen, was zu tun ist.”
“Oh, Mama, wir können ihn doch nicht bitten, uns zu helfen.”
“Doch, doch, denn wir brauchen Hilfe und können uns weder an Sir Arthur noch an die Männer aus unserem Freundeskreis wenden, denn das würde nur ein Gerede anfachen. Der Earl ist der Einzige, dem ich unbedingte Verschwiegenheit zutraue. Ich würde ja selbst zu ihm gehen, aber ich fürchte, meine Füße werden mich nicht tragen, so aufgeregt wie ich bin. Und du kannst ihm ja auch viel besser berichten, was geschehen ist. Komm, setze deinen Hut wieder auf und gehe sofort zu ihm.” Als Lydia wortlos gehorchte und bereits wieder an der Tür war, rief sie ihr noch ein wenig überraschend nach: “Und bringe ihm endlich seinen Regenschirm zurück.”
Wie drollig Mama doch manchmal ist, dachte Lydia, während sie den Flur durchquerte. In dieser Situation an den Regenschirm zu denken! Nichtsdestoweniger holte sie ihn aus der Ecke hervor und eilte damit über den schmalen Pfad zum Herrenhaus, während sie sich unaufhörlich fragte, wie sie es wohl fertig bringen sollte, den Earl um Hilfe zu bitten nach allem, was zwischen ihnen in letzter Zeit geschehen war. Allein der Gedanke daran erhitzte ihr Blut. Vielleicht würde er sie auslachen und wegschicken und ihr sagen, sie sollten die Suppe allein auslöffeln. Am besten wäre es, wenn er gar nicht daheim wäre. Aber wen könnte sie dann um Hilfe bitten? Ach, Annabelle war wohl weitaus wichtiger als eine peinliche Begegnung.
Sie fand Ralph Latimer in einem der hinteren Räume, wo er mit einem Stuckateur über die originalgetreue Wiederherstellung der Deckenornamente beriet. Als er seine Besucherin erkannte, brach er das Gespräch jedoch sofort ab und kam ihr entgegen, um sie zu begrüßen. “Miss Fostyn! Ich hatte nicht erwartet, dass ich schon so bald wieder das Vergnügen Eurer Gesellschaft haben würde. Wie ich sehe, habt Ihr mir meinen Regenschirm zurückgebracht. Wie liebenswürdig von Euch.” Er nahm ihr den Schirm ab und reichte ihn dem Diener, der Lydia zu ihm geführt hatte. “Darf ich Euch eine Tasse Tee anbieten? Einen Likör? Oder ein Glas Madeira?”
“Nein, danke, ich kann nicht lange bleiben. Ich muss zurück zu Mama …”
Ralph warf ihr einen prüfenden Blick zu. Sie wirkte erregt. Ihr Hut saß schief, und ihre Augen waren trübe. Auf ihren Wangen brannten rote Flecke, und ihr Atem ging schwer, so als sei sie sehr rasch gelaufen. “Ist irgendetwas geschehen?”, fragte er besorgt.
“Ja, wir brauchen Eure Hilfe. Es ist …” Lydia zögerte und sprudelte dann hastig heraus: “Annabelle ist verschwunden.”
“Verschwunden?” Er lächelte. “Aber nicht doch. Sie spielt wahrscheinlich nur Verstecken mit Euch.” Doch dann wurde er plötzlich ernst. “Sie ist doch nicht etwa in den Wald gegangen, Lydia?”
Bei diesen Worten erinnerte sie sich der Schmuggler und auch Freddies. Eigentlich wäre er derjenige, der sich um die Familie kümmern sollte. Aber er war nicht erreichbar, und er würde wohl auch nicht freiwillig aus seinem Versteck kommen, um die kleine Schwester zu suchen. “Nein, nein, ich habe sie in Chelmsford verloren.”
“Vielleicht hat sie sich mit einer Freundin getroffen …”
“Ich habe überall nach ihr gefragt und die ganze Stadt durchsucht. Schließlich habe ich festgestellt, dass ein Mädchen von ihrem Aussehen in eine Postkutsche gestiegen ist. Ganz sicher ist es Annabelle gewesen.”
“Meint Ihr damit, sie ist weggelaufen?”
“Ich fürchte es. Wisst Ihr … Oh, es ist ja so beschämend, dass ich es kaum über die Lippen bringe. Ich denke, sie ist mit … mit Perry Baverstock auf und davon. Sie wollten heiraten, aber seine Eltern erlauben es nicht.”
“Nun, das war wohl auch nicht anzunehmen”, murmelte Ralph Latimer. “Habt Ihr eine Ahnung, wohin sie gefahren sein könnten?”
“Die Kutsche ging nach Norwich. Ich bin sicher, dass sie so bald wie möglich heiraten werden …”
“Dann müssen sie nach Schottland.”
“Nach Schottland? Aber das ist ja Hunderte von Meilen entfernt! Warum sollten sie so weit fahren?”
“Wenn sie eine rechtsgültige Ehe schließen wollen, müssen sie dorthin.” Der Earl rief einen Diener herbei. “Hardy, sage Garrand, er soll die vier besten Pferde an die große Kutsche spannen und am Tor vorfahren. Und setzt euern besten Reiter auf einen schnellen Renner. Er
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