Ballnacht in Colston Hall
sie gehabt hatte. Schließlich war der Anlass für die Fahrt nach Chelmsford ja der angebliche Kauf von gelbem Band gewesen.
Atemlos hastete sie von Laden zu Laden, fand aber keine Spur von Annabelle. Auch zu dem Gasthof war sie in der Zwischenzeit nicht zurückgekehrt. “Wir helfen suchen”, erklärte Partridge und erhob sich umständlich. “Alle helfen wir suchen.”
Von Panik getrieben lief Lydia durch alle Straßen, blickte in jede Seitengasse und sprach bei allen Bekannten vor, die Annabelle möglicherweise aufgesucht haben konnte – doch vergebens. Niemand hatte die Schwester gesehen. Nach zwei Stunden gab Lydia erschöpft die Suche auf. Offensichtlich bestand keine Aussicht mehr auf Erfolg. Sie ließ sich auf einer Bank nieder und starrte vor sich hin. Plötzlich dämmerte ihr, dass es Annabelles Absicht gewesen sein musste, heimlich zu verschwinden. Zu eifrig war sie darauf bedacht gewesen mitzufahren. Und dann dieses große Bündel, das angeblich das neue fliederfarbene Kleid enthalten hatte, das sie Caroline zeigen wollte. Wahrscheinlich ist in der Tat ein Kleid darin gewesen, dachte Lydia, aber auch Unterwäsche, ein Nachthemd und das bisschen Schmuck, das die Schwester besaß.
Und Peregrine Baverstock war am gestrigen Tage sehr gesprächig gewesen, als er von seiner baldigen Abreise mit einem Mietwagen berichtete. Aber warum sollte Annabelle mit ihm fahren, wenn sie doch ohnehin am nächsten Tag nach London reisen würde? Als Lydia die passende Antwort in den Sinn kam, zuckte sie zusammen. Weil sie nämlich gar nicht nach London fahren wollten!
Rasch eilte sie zu der Stelle am Marktplatz, wo die Kutscher auf Kunden warteten. Nach einigem Herumfragen traf sie schließlich auf einen Mann, der ihr bestätigte, ja, eine junge Dame in einem blauen Umhang und einer Samthaube sei in einen der Wagen gestiegen. Aber es sei ein Wagen gewesen, der nach Norden fuhr, und sie sei allein gewesen. Auf Lydias dringlichere Erkundigung hin schüttelte er den Kopf. Nein, ein junger Mann habe sie nicht begleitet.
Am liebsten hätte sich Lydia sofort auf die Verfolgung der Schwester gemacht. Doch das wäre ein törichtes Unterfangen gewesen. Die Kutsche war mit vier frischen Pferden bereits vor mehr als einer Stunde abgefahren, sodass die zwei alten Gäule der Fostyns keinerlei Chance hatten, sie einzuholen. Die nächste Postkutsche aber würde erst in einer Stunde fahren, und die Mutter musste doch auch so schnell wie möglich von dem neuen Schicksalsschlag unterrichtet werden. Schweren Herzens kehrte Lydia zum Gasthof zurück und befahl Partridge, so schnell, wie die Pferde nur laufen konnten, nach Hause zurückzukehren.
Die Mutter war schon seit einer Stunde unruhig in der Halle auf und ab gelaufen und stürzte nun aufgeregt auf Lydia zu, als diese endlich, viel später als erwartet, heimkehrte und ihr mit hastigen Worten den Grund für die Verspätung berichtete. Totenbleich sank die Mutter in den nächstbesten Armstuhl. Sie schien gar nicht mehr in der Lage zu sein, das Malheur in seinem ganzen Umfang zu begreifen, sondern stützte den Kopf in die Hände und wiegte nur den Oberkörper verzweifelt hin und her. Offensichtlich war sie von dem Schreck völlig übermannt worden.
Lydia hockte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. “Weine nicht, Mama, wir werden sie bestimmt finden. Wir holen sie zurück.”
“Bist du denn sicher, dass sie mit Peregrine Baverstock davongelaufen ist? Glaubst du nicht, dass sie irgendjemanden besucht hat, an den wir noch gar nicht gedacht haben?”
“Ich habe jeden aufgesucht, der mir eingefallen ist, Mama. Niemand hat sie gesehen.”
“Sie könnte einen Unfall gehabt haben oder ist entführt worden. Vielleicht liegt sie irgendwo tot …”
“Nein, ich bin ganz sicher, dass sie nicht tot ist.” Lydia bemühte sich, zuversichtlich zu scheinen, obwohl sie am liebsten auch geweint hätte wie die Mutter. Aber einer musste doch den Kopf oben behalten. “Und wer sonst könnte mit von der Partie sein? Du weißt doch, wie sie sich in letzter Zeit aufgeführt hat.”
“Und wohin sind sie gefahren?”
“Die Kutsche ging nach Norwich. Aber sie können natürlich auf irgendeiner Station unterwegs ausgestiegen sein.”
“Oh, ich darf gar nicht daran denken, was alles geschehen könnte! Meine arme Kleine! Wir waren alle so mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt …”
“Und mit dem Ball beim Earl of Blackwater.”
“Ja, ja, wie du sagst – der Earl.” Die
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