Ballnacht in Colston Hall
muss vorausreiten und für ein frisches Gespann sorgen.”
“Sofort, Mylord.”
“Und schicke meinen Kammerdiener her.”
Als der Mann verschwunden war, wandte sich Ralph Latimer wieder an Lydia. “Habt Ihr etwas von dem Ehegesetz von Lord Harwicke gehört?”
“Kein Wort.”
“Es ist vor etwa zehn Jahren in Kraft getreten, ungefähr zu der Zeit … Aber lassen wir das. Eine seiner Bestimmungen verbot sogenannte Eilhochzeiten. Sie hießen so, weil sie ohne jedwede Ehelizenzen in Wirtshäusern oder Schankstuben vorgenommen wurden, und waren insbesondere bei jungen Leuten, deren Eltern mit ihrer Wahl nicht einverstanden waren, sehr beliebt. Sie konnten aber auch an anderen Orten vollzogen werden, wenn es gelang, einen Geistlichen dazu zu überreden. Da dieses Verfahren jetzt nicht mehr gestattet ist, sind die Ehewilligen, die ohne Erlaubnis ihrer Eltern heiraten wollen, gezwungen, nach Schottland zu reisen. Dort können sie in Gretna Green durch eine einfache Erklärung Mann und Frau werden.”
“Und das ist dann rechtmäßig?”
“Ja.”
Der Kammerdiener erschien und erhielt den Auftrag, Sachen für zwei oder drei Tage Abwesenheit einzupacken. “Nichts Überflüssiges”, befahl der Earl. “Ich beabsichtige unbeschwert und sehr schnell zu reisen.”
“Wollt Ihr den beiden folgen?” erkundigte sich Lydia, als der Diener pflichteifrig davongeeilt war.
“Gewiss, sobald ich mich bei Lord und Lady Baverstock erkundigt habe, ob sie gleichfalls ihren Sohn vermissen.”
“Seid Ihr Euch dessen nicht sicher?”
“Nun, es wäre töricht, sich hier nur auf Vermutungen zu verlassen. Ihr sagtet, Eure Schwester sei allein gewesen, als sie die Postkutsche bestieg?”
“Ja, aber mir ist inzwischen eingefallen, dass der erste Halt in Malden ist, und das liegt in unmittelbarer Nähe des Hauses der Baverstocks. Perry kann dort zugestiegen sein.”
“Das werden wir sehr schnell herausfinden. Geht nun zurück zu Eurer Mutter und leistet ihr Gesellschaft, damit sie nicht in Trübsal versinkt. Mit Gottes Hilfe werde ich sehr bald mit Eurer Schwester gesund und munter zurück sein.” Sollten seine Vermutungen hinsichtlich des Reisezieles der beiden Ausreißer richtig sein, dann würden sie in Norwich in eine Kutsche nach Cambridge umsteigen und von dort nach Peterborough auf die große Nordroute wechseln. Wenn er sich sofort auf den Weg machte und seine Pferde durchhielten, konnte er sie an dieser Stelle aufhalten.
“Oh, ich danke Euch von ganzem Herzen, Mylord!”
Ralph blickte Lydia mit seitlich geneigtem Kopf an und erwiderte lächelnd: “Ihr könnt mir danken, wenn ich sie zurückgebracht habe.”
Ich hätte ihr diese Bitte nicht abschlagen können, dachte er, während er zu der Kutsche eilte. Ich kann ihr überhaupt nichts abschlagen, wenngleich diese Angelegenheit zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt gekommen ist. Am frühen Morgen war er nämlich in der Waldhütte gewesen und hatte dort eine neue Lieferung von Schmuggelware vorgefunden. Weinbrand und Wein, Seide und Tee, alles Dinge, die verteilt und verkauft werden mussten. Deshalb wollte er wiederkommen, wenn die Burschen die Sachen abholten, und sie dabei festnehmen lassen. Da er der Grundherr war, konnte er in gewissen Grenzen bestimmen, was dann mit ihnen geschehen sollte: für die einen Nachsicht und für die hartgesottenen Verbrecher eine gerichtliche Untersuchung. Wenn er Glück hatte, würde er der beiden Ausreißer bald habhaft werden. Doch sie hatten bereits mehrere Stunden Vorsprung, und die Aussicht darauf war nicht besonders günstig.
Als er mit dem Wagen an Lydia vorüberfuhr, die auf dem Weg zum Witwensitz war, atmete er erleichtert auf. Zumindest sie war in Sicherheit. Wenn sie daheim ihre Mutter trösten musste, würde sie nicht des Nachts durch den Wald oder durch die Dünen streifen, wo ihr alles Mögliche zustoßen konnte.
Lydia war indessen zu dem einigermaßen tröstlichen Schluss gekommen, dass Annabelles Verschwinden wenigstens ein Gutes hatte: Ralph Latimer war dadurch nicht mehr in der Lage, sich mit Freddie zu treffen. Freddie. Er würde sich fragen, warum sie seiner Bitte nicht nachgekommen war. Würde er ärgerlich genug sein, um doch nach Hause zu kommen und sie zur Rede zu stellen? Und wie würde die Mutter in dieser Situation auf sein plötzliches Erscheinen reagieren?
Von den Schmugglern durfte sie ihr nichts erzählen, denn sie wäre entsetzt, wenn sie erführe, dass ihr Sohn gemeinsame Sache mit Gesetzesbrechern
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