Ballnacht in Colston Hall
machte und irgendetwas Düsteres plante. Doch bei dem nächsten Gedanken drohte gar Lydias Herzschlag auszusetzen. Wenn Annabelle nun gar nicht mit Perry geflohen war? Wenn sie Freddie getroffen und ihm ihre Hilfe bei seinem Vorhaben zugesagt hatte, weil Lydias Unterstützung nur sehr zögerlich gewesen war? Vielleicht war Freddie irgendwo anders hingegangen und die Schmuggler hatten sich während seiner Abwesenheit der kleinen Schwester bemächtigt? Es waren alles nur Vermutungen, aber sie waren samt und sonders äußerst beängstigend.
Unruhig wanderte Lydia im Wohnzimmer hin und her, vom Fenster zur Tür und von der Tür wieder zum Fenster, während die Mutter untätig auf dem Sofa saß und nur seufzend die Hände im Schoß rang. Stundenlang ging das so. Schließlich sagte sie: “Du musst endlich ins Bett gehen, Mama. Sie können heute Abend nicht zurück sein, und du brauchst deine ganze Kraft für den morgigen Tag. Nimm etwas Baldrian, dann wirst du schon einschlafen.”
“Und was machst du?”
“Ich setze mich an dein Bett, bis du eingeschlafen bist, und dann lege ich mich auch hin. Wir müssen Gottvertrauen haben, Mama.”
“Du vertraust ihm, nicht wahr, Lydia?”
“Ja, Mama.”
“Nun gut, dann werde ich also schlafen gehen.”
Selbst nach zwanzig Tropfen Baldriantinktur dauerte es noch eine ganze Weile, bis der Mutter endlich die Augen zufielen. Lydia vergewisserte sich noch einmal, ob ihr Schlaf auch tief und ruhig genug war, dann eilte sie in Freddies Zimmer, zog dort wieder die Kleider des Bruders an, holte aus der Truhe in ihrem Zimmer das ominöse Päckchen und verließ lautlos durch die Hintertür das Haus. Sie würde dieses kostbare Faustpfand benutzen, um Annabelle freizukaufen.
Ohne Mühe fand sie im Dunkeln den Weg, den sie in den letzten Tagen schon so oft gegangen war, und stand schon bald vor der kleinen Hütte. Weit und breit war niemand zu sehen, obwohl sich auf dem Fußboden die Schmuggelware, bedeckt mit einem alten Segel, stapelte. Nach kurzem Nachdenken schlich sie vorsichtig wieder an den Waldrand zurück, suchte sich eine Stelle, die einen weiträumigen Überblick bot, und setzte sich dort auf einen Baumstumpf. Sie würde warten, bis irgendjemand auftauchte. Keiner würde ihren wachsamen Augen entgehen.
Womit sie allerdings nicht gerechnet hatte, war die Müdigkeit, die sie überfiel, nachdem sie sich bequem an einen Fichtenstamm gelehnt hatte. Binnen Kurzem war sie eingeschlafen und erwachte erst wieder von dem Schnauben eines Pferdes. Im ersten Augenblick wusste sie nicht mehr, wo sie war. Es war sehr dunkel, denn der Himmel war mit Wolken behangen, und sie rieb sich verschlafen die Augen. Doch dann erblickte sie einen kleinen Lichtschein, der sich beim näheren Hinsehen als eine Laterne erwies, die an einem Karren befestigt war. Das Pferd, das sie geweckt hatte, war daran angeschirrt.
Vorsichtig richtete sich Lydia auf. Fünf Männer waren damit beschäftigt, die Konterbande aufzuladen. Zwei davon waren Leute aus dem Dorf, zwei waren ihr unbekannt, und der Fünfte war Freddie. Von Annabelle oder Robert Dent war nichts zu sehen.
In diesem Augenblick schien der Karren voll zu sein. Das Segel wurde darüber gezogen, und einer der Burschen sagte: “Wir kommen wieder und holen den Rest. Daniel, du bleibst hier und hältst Wache.”
Daniel, das ist doch der Gehilfe von Sir Arthurs Gärtner, der mir den Brief von Freddie gebracht hat, dachte Lydia. Ob Sir Arthur wohl eine Ahnung hatte, womit sich seine Bediensteten beschäftigten?
“Nein, ich werde warten”, hörte sie jetzt Freddie sagen. “Ihr nehmt den Jungen wieder mit.”
“Was hast du denn vor, Fostyn?” Der Unbekannte schien eine Art Anführer der Bande zu sein.
“Sage ihm, ich will sehen, ob Gaston nicht wieder auftaucht.”
“Das wird er bestimmt nicht. Er ist entweder ertrunken oder dem Steuereinnehmer in die Hände gefallen.”
“Dessen bin ich nicht ganz so sicher. Ich werde auf alle Fälle hier warten. Sage ihm, ich komme dann mit der zweiten Fuhre und habe vielleicht eine gute Nachricht für ihn.”
“Was für eine gute Nachricht?”
“Er weiß schon, was ich meine. Und nun geht, sonst sind wir bis zum Tagesanbruch nicht fertig.”
Der Mann schnalzte mit der Zunge, der Gaul setzte den Karren in Bewegung, und Freddie blickte ihm nach, bis das Gefährt auf dem durchfurchten Pfad in Richtung auf die alte Römerstraße verschwunden war. Dann wandte er sich um und ging in die Hütte
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