Ballsaison: Palinskis siebter Fall
Stunde noch immer nicht aufgetaucht war, sich die Nudeln hoffnungslos verklebt hatten und die Soße eingetrocknet aus dem Topf grüßte, war Else Pleschke unruhig geworden und hatte Marlies Landis angerufen, Binchens beste Freundin.
Die hatte zunächst nicht so recht herauswollen mit der Sprache. Nachdem sie aber bemerkt hatte, dass die alte Frau kurz vor dem Kollaps stand, hatte sie sich doch dazu herabgelassen, die der Freundin zugesagte Vertraulichkeit ein wenig zu vergessen.
»Sie hat gesagt, sie weiß nun, wer ihr Papa ist. Und ein Mann hat ihr versprochen, sie zu ihrem Papa zu bringen«, hatte Marlies berichtet. »Und der hat sie heute Morgen mitgenommen .«
Else Pleschke sah ihre schlimmsten Befürchtungen erfüllt, nein übertroffen. Seit Jahren schon drängte sie ihre Tochter, Binchen doch endlich das Geheimnis ihrer Herkunft zu lüften und dem Kind – »Mein Gott, mit 13 Jahren war man ja eigentlich kein Kind mehr« – endlich die Wahrheit zu sagen.
Aber Ulrike wusste ja immer alles besser oder hatte immer wieder eine Ausrede gehabt. Nicht heute, beim nächsten Geburtstag, zum Jahresanfang, immer dieses dumme Hinausschieben einer an sich unaufschiebbaren Angelegenheit. Da war aus einer Mücke, na, vielleicht aus einer Taube oder etwas dieser Größenordnung, ein Elefant gemacht worden. Und mit welchem Ergebnis, konnte man jetzt ja sehen.
Fast hysterisch rief sie bei Dr. Holzenbolz an, dem Zahnarzt, der Ulrike die Zahnhygiene seiner Patienten übertragen hatte. Als sie ihre Tochter am Telefon hatte, hatten sich Realität, Fantasie und geheime Ängste bereits so sehr miteinander vermengt, dass das, was sie ihrer Tochter erzählte, nichts mehr mit der ohnehin nicht ganz eindeutig feststehenden Realität zu tun hatte.
»Ulrike, es ist etwas passiert! Sabine weiß, dass Tobias ihr Vater ist, und sie ist unterwegs zu ihm. Möglicherweise ist sie aber entführt worden, von einem unbekannten Mann, in dessen Wagen sie heute Morgen eingestiegen ist .«
Völlig aufgelöst verabredeten die beiden Frauen, sich in einer halben Stunde am Heger-Tor-Wall zu treffen, um Sabines Entführung bei der Polizei zur Anzeige zu bringen.
* * *
Nach einem guten Dutzend fehlgeschlagener Versuche, ihren Chef telefonisch zu erreichen, sowie drei weiteren geplatzten Terminen, hatte sich Frieda Martineks Ärger über Dr. Weghofer in echte Sorge gewandelt.
Und so hatte sie sich nach ihrer traditionell durchgearbeiteten Mittagspause entschlossen, dem Chef jetzt höchstpersönlich auf den Pelz zu rücken. Bevor er noch mehr Mandanten verprellte oder gar sein Treffen mit Landesgerichtsrat Dr. Hieselbach um 17.00 Uhr verpasste.
Wozu sonst hatte er ihr einen Reserveschlüssel für seine Wohnung anvertraut, wenn nicht für einen solchen Fall? Obwohl, bei seiner Übergabe vergangenes Jahr hatte er ihr ausdrücklich dafür gedankt, dass sie sich während seines Urlaubs um die Blumen kümmern wollte.
Der Anblick, der sich ihr beim Betreten der komfortablen Eigentumswohnung ihres Chefs bot, verschaffte ihr ein äußerst brutales Déjà-vu-Erlebnis, denn in den Räumen herrschte ein mindestens ebenso großes Durcheinander wie heute Morgen in der Kanzlei. Sofort griff sie zu ihrem Mobiltelefon und verständigte die Polizei.
Dann erst bemerkte sie den gravierenden, alles anders machenden Unterschied zwischen der Inszenierung hier und jener an ihrem Arbeitsplatz. Im sogenannten kleinen Salon fand sie den leblosen Körper Rechtsanwalt Dr. Julian Weghofers.
Als erste Amtshandlung musste die kurz darauf erschienene Funkstreifenbesatzung eine Rettung anfordern, die Frieda Martinek mit einem ausgewachsenen Nervenzusammenbruch ins Wilhelminenspital brachte.
Wie die Gerichtsmedizin später am Abend feststellen sollte, war der Anwalt durch einen Genickbruch gestorben. Vorher dürfte er aber noch gefoltert worden sein. Einen anderen Schluss ließen die zahlreichen, offenbar durch Zigaretten herbeigeführten Brandwunden am ganzen Körper sowie sechs gebrochene Finger, vier davon an der linken Hand, nicht zu.
* * *
Oberleutnant Beat Vonderhöh von der Kantonspolizei Zürich war sauer. Erstens traten die Untersuchungen in der Mordsache ›Arthur Mellnig‹ nach fast 36 Stunden nach wie vor auf der Stelle. Außer einer relativ guten Beschreibung der Frau, mit der der Ermordete im rumänischen Speisewagen gesehen worden war, und einer darauf basierenden Phantomzeichnung hatten die Ermittler nichts in der Hand. Der Schlafwagenschaffner
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