Baltasar Senner 03 - Busspredigt
lieber, was er nicht getan hat. Und warum. Aber so viel Zeit haben selbst Sie nicht, Herr Pfarrer«, sagte Manrique.
»Geben Sie auf, Herr Senner, Sie quälen sich nur selbst«, meinte Feuerlein. »Je mehr Sie in der Vergangenheit wühlen, desto verworrener wird es. Denn was Sie herausfinden werden, wird Ihnen nicht gefallen.«
»Nun, das Gespräch mit Herrn Kehrmann möchte ich jedenfalls noch führen«, antwortete Baltasar. Obwohl er nicht einmal wusste, ob diese Spur überhaupt irgendwohin führte.
Baltasar fand Franz Kehrmann in der Werkstatt. Sie gingen in einen Aufenthaltsraum, der für die Lehrkräfte reserviert war. Baltasar erzählte ihm, er habe Manrique und den Schulleiter soeben getroffen, was Kehrmann erschreckte.
»Die wissen, dass ich mit Ihnen rede?«
»Sie wissen nichts Näheres, wir haben nur in aller Kürze ein paar Worte gewechselt.«
»Ich … Ich will nichts erzählen, was der Schule oder den beiden Kollegen schaden könnte. Schließlich arbeite ich hier.«
»Keine Sorge, sie haben weder Ihnen noch mir Sprechverbot erteilt. Im Übrigen habe ich sowohl mit Herrn Manrique als auch mit Herrn Feuerlein bereits unter vier Augen gesprochen, es gibt also keine Geheimnisse.«
»Aber was ich Ihnen sage, bleibt unter uns, nicht wahr, Herr Pfarrer? Ich will keinen Ärger, ich mag meinen Job.«
»Seltsam. Alle wollen nur hinter vorgehaltener Hand über Anton Graf sprechen. Ich verstehe nicht, warum, zumal er tot ist und niemandem mehr etwas anhaben kann.«
»Ich fürchte mich nicht vor den Toten, ich fürchte mich vor den Lebenden!«
»Wovor haben Sie denn Angst?«
»Jemand hat den Mann doch umgebracht. Und dieser Jemand läuft noch immer frei herum. Das finde ich beunruhigend.«
Kehrmann verschränkte die Hände auf dem Tisch.
»Hatte Anton viele Feinde?«
»Wenn es ein Feind war, warum hat der ihn dann nicht schon eher umgebracht? In den letzten Jahren lebte Graf sehr zurückgezogen. Es könnte doch auch ein Fremder gewesen sein. Ein Zufall. Oder eine Frau. Aber was fragen Sie mich das, ich bin kein Polizist, Hochwürden, und ich will auch keiner werden.«
»Sie kannten Herrn Graf aus der Angra?«
»Ich war in dem Unternehmen als Meister angestellt, in der Glasbläserei. Wir produzierten Stücke, die komplett handgefertigt und entsprechend hochpreisig waren, nicht wie dieser Industrieschrott, den es heute überall gibt. Johann Helfer, also Manrique, hat damals wirklich außergewöhnliche Entwürfe für weitere exklusive Kleinserien vorgelegt, sie hatten Weltklasse. Doch als wir damit loslegen wollten, fingen die Finanzprobleme in der Firma an. Wir mussten sparen und kauften deshalb Ware aus Fernost an.«
»Wie schlimm stand es denn tatsächlich um die Angra?«
»Also eigentlich bestand Angra aus mehreren Teilen, die Muttergesellschaft, eine Produktionsfirma, eine Vertriebsfirma und noch eine Firma, die auch die Markenrechte hielt. Eines Tages sickerte durch, dass sich das Unternehmen übernommen hatte und Zahlungsausstände nicht mehr begleichen konnte.«
Kehrmann sah Baltasar an.
»Stellen Sie sich vor, Hochwürden, Sie erfahren plötzlich als kleiner Angestellter solche Hiobsbotschaften. Da sind Sie wie vor den Kopf gestoßen.« Er beugte sich vor. »Und nicht nur ich, sondern die anderen 250 Mitarbeiter waren es auch. Wir bangten und hofften, dass es weiterginge. Die Geschäftsleitung versuchte, Kooperationen einzugehen, Geschäftsanteile zu verkaufen und einen Großteil der Produktion ins Ausland zu verlagern. Doch es war alles vergebens. Die Angra war zahlungsunfähig und musste Konkurs anmelden.«
»Das Unternehmen war pleite?« Diese Information überraschte Baltasar. »Aber es gibt die Angra doch noch immer!«
»Nur der Markenname existierte weiter. Er wurde an Investoren veräußert. Aber die Gläser, auf denen heute Angra steht, kommen aus dem Ausland und haben nichts mehr mit dem Bayerischen Wald zu tun. Außerdem gingen nicht alle Firmenteile des Unternehmens pleite, sondern nur die Produktions- und die Vertriebsgesellschaft.«
Aus Kehrmanns Stimme war Bedauern herauszuhören.
»Aber das war schlimm genug: Praktisch alle Angestellten arbeiteten in der Produktion. Als dann im wahrsten Sinne des Wortes der Ofen aus war, standen 250 Leute auf der Straße. Das war ein Hammer: 250 Leute arbeitslos, auf einen Schlag.«
»Wurde denn versucht, die Arbeitsplätze zu erhalten?«
»Alle haben sich eingeschaltet: Kommunalpolitiker, Gewerkschafter, Angehörige. Man forderte
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