Baltasar Senner 03 - Busspredigt
Marlies verschwunden.
Er lief auf die Straße, hielt Ausschau nach der roten Jacke – doch es war vergebens. Er fragte einen Schüler, der gerade herauskam, nach ihr.
»Marlies? Hab ich vorhin noch gesehen.« Der Junge zeigte auf einen weißen Motorroller, der an der Seite lehnte. »Das ist ihr Gefährt, sie muss also noch in der Schule sein.«
Hatte sie sich vor ihm versteckt? Er ging zurück ins Schulgebäude, sah in den Gängen nach, in der Werkstatt. Er wartete vor den Toiletten, sah nach, ob sie vielleicht durch eine Seitentür verschwunden war. Ohne Erfolg. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt.
Als er schließlich wieder draußen war, kam ihm eine Idee. Es war absolut nicht rechtens, was er nun vorhatte, doch Baltasar hoffte, der Herrgott möge ihm dennoch die Absolution erteilen. Er sah sich verstohlen in alle Richtungen um, dann ging er wie zufällig zu dem Roller hinüber, sah sich nochmals um – und ließ in Blitzesschnelle die Luft aus dem Vorderreifen, indem er das Ventil öffnete.
Er wartete in seinem Auto. Nach einer halben Stunde sah er die rote Jacke. Marlies Angerer klappte den Sitz des Motorrollers auf und holte den Sturzhelm heraus. Dann bemerkte sie den platten Reifen. Sie trat mehrmals dagegen, und Baltasar glaubte, ihre Flüche zu hören. Er stieg aus.
»Kann ich Ihnen helfen?« Baltasar stellte sich ihr in den Weg.
Marlies erschrak. »Sie schon wieder! Ich hab Ihnen doch gesagt, dass Sie mich in Ruhe lassen sollen.«
»Ist der Reifen zerstochen worden?« Er befühlte den Gummi.
»Keine Ahnung. Irgendwer fand das wohl lustig.«
»Schlimm, dieser Vandalismus heutzutage.«
Das Mädchen verstaute den Helm wieder. »So ein Mist! Gerade jetzt, wo ich dringend wegmuss.«
»Wohin soll’s denn gehen? Ich kann Sie mitnehmen.«
»Das geht Sie nichts an! Und von Ihnen lass ich mich sicher nicht fahren.«
»Warum so abweisend? Ich will doch nur mit Ihnen reden.«
»Ich will nichts mit Ihnen zu tun haben, und damit hat sich’s.«
Baltasar richtete den Motorroller auf. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich schiebe Ihnen den Roller zur nächsten Tankstelle, dort können wir den Reifen aufpumpen. Sieht so aus, als ob er nicht zerstochen worden wäre.«
»Keine Sorge, ich find schon jemanden, der mir hilft.«
»Kann sein. Aber ich sehe im Moment niemanden hier – außer mir.«
Marlies verschränkte ihre Arme. »Dann warte ich eben.«
»Hatten Sie nicht gesagt, Sie hätten es eilig?« Ohne sie zu beachten, griff er den Lenker und begann, den Roller zu schieben. »Kommen Sie, Frau Angerer, die nächste Tankstelle ist nicht weit. Nur kurz plaudern.«
»Was erlauben Sie sich …«
Aber nachdem Baltasar sich nicht darum kümmerte, sondern den Roller einfach weiterschob, holte sie auf und ging neben ihm her.
»Ich habe Sie in der Kirche bei der Beerdigung von Anton Graf gesehen. Anton Graf war mein Freund und Nachbar. Kannten Sie ihn?«
»Nö.«
»Sind Sie so gläubig, dass Sie Beerdigungen von Fremden besuchen, noch dazu in anderen Gemeinden? Wobei Bestattungsfeierlichkeiten trotz allem recht nett sein können, vor allem der Leichenschmaus danach …«
»Ich will nicht darüber reden.«
»Sehen Sie, Frau Angerer, alles, was Sie mir anvertrauen, bleibt unter uns. Niemand kann mich zwingen, Dritten etwas von dem preiszugeben, was Sie mir sagen. Und Sie haben doch nichts Schlimmes zu verbergen, oder?«
»Nein … ich … meine Freunde … Ich will nicht …« Sie hielt den Blick gesenkt, während sie neben ihm herging.
»Ich bin nicht Ihr Feind. Ich bin Ihr Freund, Frau Angerer. Helfen Sie mir bitte ein wenig, in Gottes Namen!«
»Es hat etwas mit meinen Freunden zu tun, Hochwürden.« Marlies sah ihn direkt an. »Versprechen Sie mir, den anderen niemals etwas von diesem Gespräch zu erzählen?«
»Versprochen!«
»Nun, eigentlich kenne ich … also, ich kenne diesen Mann, diesen Herrn Graf, gar nicht. Ich hab erst in der Zeitung sein Bild gesehen und darüber gelesen … über … über den …«
»Mord, meinen Sie?«
Sie nickte. »Aber ich bin ihm vorher einmal begegnet …«
Jetzt blieb Baltasar stehen. »Sie haben Herrn Graf getroffen? Wann war das genau?«
»Das ist es ja eben. Es war genau an dem Tag, an dem er …«
Es durchfuhr Baltasar wie heißer Stahl. »Sie haben Anton an seinem Todestag …«
»Ja. Am Vormittag. Wir hatten uns am Spielplatz verabredet, um eine Spontanparty zu feiern.«
»Sie meinen den Spielplatz im Stadtpark, wo ich Sie letztes Mal getroffen
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