Balthazar: Roman (German Edition)
weiß keinen anderen Ausweg. Vielleicht wird danach alles besser. Vielleicht gibt es keine andere Lösung.
Tu es nicht, will Skye ihm zurufen, aber sie weiß, dass das nichts nützen würde. Er hat sich schon vor langer Zeit zu diesem Schritt entschlossen. Ihr Wissen lindert jedoch nicht die überwältigende Traurigkeit und die Angst, die in ihr aufsteigen und ihre eigenen Gefühle verdrängen, bis sie nichts weiter ist als ein Gefäß für die Qualen dieses Jungen.
Sein Strick besteht aus einigen Stoffstreifen, für die er offenbar einen Bettbezug zerrissen und aneinandergeknotet hat. Er knüpft die Schlinge und überzeugt sich, dass sie hält, ehe er seinen Kopf hineinschiebt. Der Spott der anderen hallt jetzt lauter in seinen Ohren als sein eigener Herzschlag.
Skye reißt die Augen auf, als sie den Jungen genauer betrachtet. Das alles ist schon vor Jahrzehnten geschehen, das verraten ihr seine Frisur und seine Kleidung, aber er sieht dennoch so vertraut aus. Obwohl es keine Verwandtschaft und auch sonst keine Beziehung gibt, erinnert sie der Junge, der sich gerade umbringen will, an Dakota.
Er springt. Die Schlinge zieht sich zu, immer enger und fester, als er es je für möglich gehalten hätte, und es tut schlimmer weh, als er es sich vorgestellt hatte. Seinem Körper sind die anderen Schüler, die ihn verhöhnen, nun egal, und er schert sich nicht mehr um ihre Grausamkeit oder um Trauer. Er kämpft darum, am Leben zu bleiben, seine Blutgefäße platzen, seine Muskeln verkrampfen und zucken unkontrolliert in alle Richtungen. Sein Hals schmerzt unerträglich, und er will nichts lieber, als die Schlinge weit genug zu öffnen, um wieder Luft zu holen. Aber er kann nicht. Er kann es nicht.
Skye fuhr sich mit der Hand an die eigene Kehle. Nichts hinderte sie am Atmen, aber ihr Körper tat es einfach nicht. Irgendetwas in ihrem Körper flehte sie an, sich doch einfach in ihr Schicksal zu fügen, aber sie kämpfte mit aller Macht dagegen an. Noch einmal stieg vor ihrem geistigen Auge das Gesicht des Jungen auf, und erneut dachte sie: Dakota .
»Skye?« Balthazars Stimme schien von sehr weit weg zu kommen. Sie konnte ihn nicht sehen. Sie konnte überhaupt nichts mehr sehen.
Ich will es doch gar nicht, denkt der Junge. Ich will es doch nicht. Seine Beine strampeln wie wild, während er versucht, irgendwo Halt zu finden, damit er sein Leben retten kann; wie kaputt und traurig es auch sein mag, alles ist besser als das hier. Aber seine Füße treten ins Leere, und in seinem Kopf wird alles schwarz …
Skye konnte nichts mehr sehen. Konnte nicht mehr nachdenken. Sie war sich nicht einmal sicher, woher sie wusste, dass sie fiel.
11
Balthazar erreichte Skye in genau dem Augenblick, in dem sie zusammenbrach, und fing sie in seinen Armen auf, unmittelbar bevor sie auf dem Boden aufgeschlagen wäre. Einige Leute schrien etwas und zeigten auf sie beide, denn Balthazars Ruf hatte eine Menge Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Aber alle gingen davon aus, dass es nichts weiter zu sehen gäbe als eine Schülerin, die während eines Basketballspiels ohnmächtig geworden war.
Allerdings war es möglich, dass alles doch viel, viel schlimmer war.
Balthazar hob Skye hoch und trug sie auf seinen Armen unter der Tribüne hindurch nach draußen. Neugierige Gesichter starrten von oben zu ihnen herab, um herauszufinden, was genau passiert war. Die andere Aufsicht, Nola, brüllte: »Alle weg! Lassen Sie das Mädchen in Ruhe wieder zu sich kommen.«
»Skye, kannst du mich hören?« Balthazar beugte sich über sie; sie war zwar nicht völlig besinnungslos, aber ziemlich benommen. Mit der einen Hand schien sie nach etwas an ihrer Kehle greifen zu wollen. »Ich bring dich raus. Gleich geht’s dir wieder besser.«
»O mein Gott. Was ist denn los?« Madison Findley tauchte auf und schien begeistert von der plötzlichen, dramatischen Wendung zu sein. »Coach Haladki, was ist denn mit Skye passiert?«
»Sie ist ohnmächtig geworden«, erklärte Nola. Dann hob sie ihre Stimme, die einen beinahe schrillen Unterton annahm: »Das passiert mit Schülern, die sich nicht an die Regeln halten! Alle wieder zurück zum Spiel. Hier gibt’s nichts mehr zu sehen.«
»Ich konnte nicht mehr atmen«, flüsterte Skye. »Das war echt heftig.«
Als sie endlich unter der Tribüne hervorgekommen waren, ließ Balthazar sie sanft zu Boden gleiten; sie konnte zwar stehen, war aber wacklig auf den Beinen. Nola schüttelte den Kopf. »Bringen Sie sie lieber ins
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