Balthazar: Roman (German Edition)
Krankenzimmer. Bei den Spielen hat zwar seit den letzten Budgetkürzungen keine Krankenschwester mehr Dienst, aber wahrscheinlich braucht das Mädchen nur was zu trinken und ein bisschen Ruhe. Ab jetzt wird nicht mehr unter der Tribüne herumgeschlichen, Tierney, verstanden?«
»In Ordnung«, antwortete Skye, und ihre Stimme verriet, dass sie es ernst meinte. »Ich schwöre, ich halte mich in Zukunft davon fern.«
Madison tauchte an ihrer Seite auf. »Soll ich mitkommen und dir Gesellschaft leisten?« Auch wenn sie offenkundig mit Skye sprach, entging Balthazar nicht, dass Madison die ganze Zeit über ihn anstarrte.
»Es geht ihr gut«, sagte er entschieden. »Skye kommt gleich wieder auf die Tribüne zurück. Sie können sich so lange das Spiel zu Ende ansehen.« Enttäuscht zuckte Madison mit den Schultern und rauschte davon.
Weder Skye noch Balthazar sprachen ein Wort, bis er sie aus der Halle gebracht hatte und sie die ruhigen, menschenleeren Flure des Schulgebäudes erreicht hatten. »Was ist unter der Tribüne geschehen?«
»Irgendein Typ hat in den Siebzigerjahren da unten Selbstmord begangen.« Ihre Stimme bebte. »Er wollte seine Entscheidung in letzter Sekunde mit aller Macht rückgängig machen, aber das konnte er nicht.«
»Hey.« Balthazar hatte schon vorher seinen Arm um Skyes Schultern gelegt, aber jetzt drückte er sie noch fester. »Es ist alles in Ordnung. Du hast es hinter dir.«
»Ich habe alles gefühlt, was er gefühlt hat.«
»Was?« Balthazar benutzte seinen Lehrerschlüssel, um die Tür zum Krankenzimmer aufzuschließen, und schob Skye hinein. Als er das Licht anschaltete, erblickten sie schlichte Wände aus weißen Hohlblocksteinen und eine einfache Pritsche, auf die sich Skye dankbar sinken ließ. In einer Ecke stand ein Minikühlschrank, in dem sich einige Tüten Orangen- und Apfelsaft befanden. Balthazar drückte Skye einen Apfelsaft in die Hand. »Trink das. Was meinst du damit, du hättest alles gefühlt, was er gefühlt hat?«
»Als er keine Luft mehr bekam, konnte ich auch nicht mehr atmen.« Wieder fuhr sich Skye mit ihrer Hand an die Kehle, und Balthazar begriff, dass sie nach der Schlinge tastete. »Das ist vorher noch nie passiert. O mein Gott. Und was das Schlimmste war …« Sie schüttelte den Kopf und konnte ihren Satz nicht beenden. Stattdessen versuchte sie, den Strohhalm in ihr Getränketütchen zu stecken. Der Schock saß so tief in ihr, dass sich all ihre Aufmerksamkeit nach innen richtete.
»Komm wieder zu dir!« Balthazar streichelte ihr mit der Hand über den Arm, und Skyes hellblaue Augen wandten sich ihm wieder zu. »Wenn die Tatsache, dass du am Ersticken warst, nicht der schlimmste Teil der Geschichte war, was war es denn dann?«
Mit leiser Stimme sagte sie: »Er sah wie mein Bruder aus. Wie Dakota.«
»Du meinst deinen Bruder, der letzten Sommer gestorben ist?«
Skye nickte. »Aber er war es nicht. So ist Dakota nicht ums Leben gekommen und … Es war einfach nicht Dakota. Aber er hat mich an ihn erinnert. Und das war schlimm genug.«
Balthazar hatte immer gedacht, wenn Charity auf eine andere Art und Weise gestorben wäre, dann hätte er um sie trauern können. Er hätte ihren Tod akzeptieren und weitermachen können. Als er jedoch nun in Skyes verzweifeltes Gesicht blickte, war er sich dessen nicht mehr so sicher.
Leise und vorsichtig fragte er: »Was ist deinem Bruder denn zugestoßen?«
»Er hat die Sommerferien mit seiner Freundin Felicia in Australien verbracht. Sie haben eine Tour querfeldein durchs Hinterland gemacht. Irgendwo hat er die Kontrolle über seinen Geländewagen verloren. Das Auto hat sich überschlagen, und Dakota hat sich das Genick gebrochen.« Skyes Augen röteten sich von unterdrückten Tränen. »Als ich diesen Jungen unter der Tribüne sah und er Dakota so ähnelte, da war es, als ob … als ob ich auch spürte, wie mein Bruder starb.«
Skye wandte den Blick ab und rang offensichtlich um Fassung. Balthazar hatte im Laufe der Jahrhunderte gelernt, dass es für manche Arten von Trauer keine Worte und keinen Trost gab. Der einzige Dienst, den man diesen Menschen in solchen dunklen Stunden erweisen konnte, bestand darin, bei ihnen zu sein. Und so drückte Balthazar Skyes Hand, respektierte ihren Schmerz und ihre Traurigkeit und ließ zu, dass die Gefühle den Raum zwischen ihnen füllten, während Skyes Atem sich langsam beruhigte und regelmäßiger wurde.
Nach einigen Augenblicken sagte Skye: »Wir müssen uns über
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