Balthazar: Roman (German Edition)
übernatürlichen Welt rings um sie herum und eine weitere Eigenschaft an Balthazar, die genauso faszinierend wie gefährlich war.
Skye trat an die Lyrik-Wand, ignorierte jedoch die bunte Kreide im Eimer, sondern griff stattdessen nach den Wortmagneten, die eher ihre Kragenweite waren. Ihre Finger suchten sich Wörter aus dem Durcheinander an der einen Seite der Tafel heraus und fügten sie zusammen:
Ich erinnere mich
an zarte Rosenfantasien
Während ihrer Zeit in Evernight war sie Craigs Freundin und ihm meistens sogar in Gedanken treu gewesen. Aber jedes Mal, wenn Balthazar auf dem Flur an ihr vorbeigelaufen war, hatte sie ihn mit Blicken verschlungen und dann versucht, sich wieder auf das zu konzentrieren, worüber sie unmittelbar davor nachgedacht hatte.
Und nachts in ihrem Schlafzimmer, während Clementine im Nachbarbett schnarchte, waren Skyes Fantasien manchmal mit ihr durchgegangen. Dann lag sie da, zerwühlte ihr Bettzeug und versuchte, an ihren Freund zu denken, dem eigentlich der einzige Platz in ihren Gedanken gebührte. Doch stattdessen sah sie Balthazar vor sich, eingerahmt von den Steinbögen der Flure von Evernight, in seiner weißen Fechtkleidung, die seinen muskulösen Körper betonte, die Maske unter den Arm geklemmt. Er hatte immer für alle, die an ihm vorbeigingen, ein freundliches Lächeln übriggehabt, aber in seinen Augen hatten stets eine seltsame Zurückhaltung und Melancholie gelegen. Skye hatte sich danach gesehnt, diese Traurigkeit zu vertreiben …
Bei diesen wehmütigen Erinnerungen stieg ein schuldbewusstes Gefühl in Skye auf. Aber weshalb soll ich ein schlechtes Gewissen haben?, fragte sie sich selbst. Ich bin jetzt frei. Und er ebenfalls. Wenn da nicht die Tatsache wäre, dass er ein Vampir ist.
Mit einem Seufzen setzte Skye noch eine weitere Gedichtzeile aus den Wortmagneten zusammen:
Wir beide, gefangen
zwischen niemals und für immer .
Skye war bislang zufrieden mit ihrem Gedicht, doch ehe sie weitermachen konnte, griff eine Männerhand nach den Magneten, veränderte und verschob ein Wort und fügte andere hinzu, sodass nun zu lesen war:
Erinnerst du dich an mich?
Skye sah zu dem Mann auf; im ersten Augenblick kam er ihr nicht bekannt vor, aber eigentlich war es schwer vorstellbar, dass sie einen Mann wie ihn vergessen haben könnte. Er war weder auffällig groß noch klein, aber alles andere an ihm war bemerkenswert: sein vollkommenes Profil, seine glänzenden, blonden Haare, der warme Ton seiner Haut und seine durchdringenden, haselnussbraunen Augen, die beinahe golden wirkten. Er erinnerte eher an eine makellose Statue als an einen lebenden Menschen. Der steife Kragen seines Hemdes sah aus, als könne man sich daran schneiden. Der Mann konnte kein Schüler ihrer Schule sein, denn er war alt genug, um einer von Skyes Lehrern zu sein … wie Balthazar …
Ich habe ihn mit Balthazar zusammen gesehen.
O mein Gott.
Redgrave lächelte. »Keine Sorge. Du hast meine Gefühle nicht verletzt, nur weil du mein Gesicht nicht wiedererkannt hast.« Er sprach mit einem seltsamen Akzent, den Skye nicht einordnen konnte; er schien nicht nach Großbritannien zu gehören, aber auch nicht nach Amerika. Es lag etwas Fremdartiges darin. »Du hast mich nur ein Mal im Dunkeln gesehen, und da auch nur mit menschlichen Augen. Meine Frage war also ganz ernst gemeint.« Er tippte mit dem Finger auf die Lyrik-Tafel, unmittelbar unter die Worte Erinnerst du dich an mich ?
»Ich schreie«, flüsterte Skye. Das war zwar keine große Drohung, aber etwas anderes fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.
»Das wäre ziemlich dumm von dir. Ich tue dir nichts, ja ich bedrohe dich nicht einmal. Ich bin einfach ein Neuankömmling in der Stadt, der sich für Lyrik interessiert.« Redgrave ließ den Blick über die bisherigen Gedichte an der Tafel wandern und seufzte. »Nicht, dass viele davon die Bezeichnung Gedichte verdienen würden. Ich muss Lorenzo hierherbringen, wenn ich ihn jemals für irgendetwas bestrafen will.«
Skye wollte so schnell wie möglich aus diesem Café verschwinden, aber sie war überzeugt davon, dass Redgrave sie genau dazu bringen wollte. Kaum wäre sie draußen und allein, würde sich Redgraves Vampirclan, der dort bestimmt auf sie wartete, auf sie stürzen. »Wieso bist du hier?«
»Um einen Kaffee zu trinken, kaum zu glauben, was? Und ich hatte gehofft, dass ich ein bisschen mit dir plaudern kann, wo doch dein Bodyguard gerade mal nicht da ist.« Bei jedem anderen Mann wäre
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