Baltrumer Bitter (German Edition)
nicht zu verlassen. Außerdem fuhr kein Schiff.
Zumindest lief kein Mensch mit Gepäck Richtung Fähre auf der Hafenstraße. Eine
Gruppe Menschen ging barfuß und mit Rucksäcken auf den Schultern ins Dorf. Wattwanderer,
dachte sie und erinnerte sich, wie sie als Jugendliche mal mit ihrer Schulklasse
eine Wanderung von Neßmersiel nach Baltrum gemacht hatte. Drei Stunden hatte
die Wanderung durch den Schlick, einige Priele und diverse Miesmuschelfelder
gedauert. Sie hatte eine Plastiktüte randvoll mit Muscheln gesammelt, die sie
allerdings auf der anderen Seite der Insel am Strand direkt wieder
ausgeschüttet hatte. Es war ihr einfach zu mühsam geworden, die Tüte herumzuschleppen,
während ihre Mitschüler sie wegen des Fischgeruchs ständig auf den Arm genommen
hatten. Sie sah, dass zwei der Wattwanderer ebenfalls eine gut gefüllte Tüte
mit sich trugen. Wie lange wohl noch? Sie lächelte leicht.
Sie horchte. In der Ferne hörte sie das leise Verklingen einer
Sirene.
Im Aufstehen prüfte sie, ob ihre Beine sie wieder tragen würden.
Es ging. Nur, was sollte sie mit dieser frisch erworbenen Erkenntnis anfangen?
Wo sollte sie hin? Strand konnte sie abhaken, zum Rumliegen war es einfach zu ungemütlich.
Kaffee hatte sie genug getrunken, während sie auf die Polizei gewartet hatte.
Sie würde nach Hause gehen – nach Hause, ha, ha!! – und ihre Tasche
packen. Wenn sie Glück hatte, konnte sie die Insel mit der nächsten Fähre für
immer verlassen.
*
Margot Steenken war nicht nach Schwimmen zumute. Oder gerade
doch. Unschlüssig stand sie im Schlafzimmer und spielte mit der silbernen
Schnalle an ihrem Badeanzug, während ihr das eine oder andere durch den Kopf
ging. Zum Beispiel Frau Ufken, die es nicht für nötig gehalten hatte, auch nur
ein Wort über die Befragung durch Röder und seine Kollegen zu verlieren. Im
Gegenteil, die hatte sich mit einem kurzen Nicken abgewandt, als ob sie ihre
Vermieterin noch nie in ihrem Leben gesehen hätte.
Und ihr Mann, der ungewohnt missmutig in die Küche gekommen war
und sich gleich auf den Weg ins Büro gemacht hatte. Zumindest hatte er das Wort
»Büro« beiläufig fallen lassen, als er gedankenverloren die Küche wieder
verließ.
Und nun auch noch Hilda. Dass
Hilda nur ab und zu eine kleine Melodie summte, ansonsten nicht redete, bis auf
diese eine winzige Ausnahme während des Tornados, war Margot zur
Selbstverständlichkeit geworden. Aber dass sie sich kaum noch bewegte, nicht
lächelte und auch sonst keine Regung mehr zeigte, bereitete ihr Sorgen. Auch
Arnold schien Hildas Stimmung aufgefallen zu sein. Immer wieder hatte er
zwischen ihr und Hilda hin- und hergeschaut. Es war also keine Einbildung. Wenn
sie das Mädchen nur fragen könnte! Das heißt, fragen kann ich sie
stundenlang , ging es Margot durch den Kopf, aber eine Antwort, die werde
ich wohl nie mehr von ihr bekommen. Sie beschloss, schwimmen zu gehen.
Sie hängte sich die Badetasche über die Schulter, schnappte
sich ihr Fahrrad und fuhr los. Eine gute Entscheidung. Mit jedem Tritt fiel
ihre Anspannung ein wenig ab. Würde das Meer noch sehr aufgewühlt sein? Sie
genoss es immer, wenn die Wellen ihr in der Brandungszone um die Beine schlugen.
Beim Schwimmen hatte sie es aber lieber ruhig. Dann musste sie nicht so sehr
darauf aufpassen, mit der nächsten Welle nicht zu viel Wasser zu schlucken,
sondern konnte sich ihren Gedanken hingeben und entspannen.
Auf der Höhe der Kite-Schule sah sie ein bekanntes Gesicht.
Thorsten Wissmann kam mit seiner kleinen Enkeltochter vom Strand. Wie
Aussehen sich doch durch eine Familie ziehen kann , dachte Margot amüsiert.
Schon die Kleine trug deutliches Übergewicht mit sich herum, genau wie ihr
Großvater. Die kugelförmigen Körper – einer groß, einer klein – wurden von
streichholzdünnen Beinen gehalten und von rötlichen Gesichtern unter wilden
blonden Stoppelhaaren gekrönt.
Als Margot näher kam, sah sie, dass beide mit Sonnenöl und Sand
bedeckt waren. »Na, da wird Mama aber ihren Spaß haben«, begrüßte sie die zwei
und wurde von der kleinen Mia sofort mit einem Bericht über ihre Strandaktivitäten
belohnt.
»Wir haben Volleyball gespielt, aber jetzt wurde es uns zu
kalt«, krähte die Kleine fröhlich.
»Wir tragen also die Zeichen unserer diversen sportlichen
Aktivitäten an uns«, sagte Wissmann zum Abschluss pathetisch und seine Enkelin
nickte.
»Das muss Mama einfach verstehen«, erklärte sie wichtig und zog
ihren Großvater an Margot
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