Baltrumer Bitter (German Edition)
kümmern.«
»Ja«, antwortete Röder leicht genervt. »Wenn du Amir nimmst.
Ich habe nämlich beide Hände voll.«
*
»Hilda? Darf ich reinkommen?« Margot Steenken öffnete die
Tür, ohne eine Antwort abzuwarten. Es wäre vergeblich gewesen. Normalerweise
hätte ihre Tochter um diese Zeit im Wohnzimmer gesessen. Aber sie hatte sich in
ihr Zimmer verkrochen. »Hilda, geht’s dir gut?«
Ihre Tochter lag im Bett, ihre Puppe fest in den Arm geklemmt.
Auf der Kommode lag ein Bildband. Säugetiere der Welt . Hilda schaute ihn
sich immer wieder an. Aber Margot wusste nicht, ob Hilda den Inhalt verstand,
oder ob sie nur von den Bildern gefangen war.
»Hilda, bitte! Was ist los?« Ihr Herz begann zu flattern. Was
hatte ihre Tochter so verändert? Wenn sie nur reden würde! »Was ist los mit
dir? Du bist so anders. Hat dir jemand was getan?«
Hilda öffnete den Mund, als wolle sie antworten. Dann
schüttelte sie jedoch nur den Kopf und schwieg.
Margot liebte ihren Mann.
Daran gab es für sie keinen Zweifel. Aber wenn er jetzt nicht bald nach Hause
käme, wo sie ihn so dringend brauchte, dann würde er von dieser Liebe nicht
mehr allzu viel bemerken. Was hatte er nur vorgehabt, als er so plötzlich vom
Küchentisch aufgesprungen war? So wütend wie vorhin hatte sie ihn noch nie
erlebt. Nicht einmal, als man ihm sein fast neues Fahrrad geklaut und er es
trotz tagelanger Suche nicht wiedergefunden hatte, war er derart aufgebracht
gewesen.
In diesem Moment fühlte sie sich alleingelassen wie selten in
den Jahren zuvor. Für viele auf der Insel galt sie als der Typ »Toll, wie sie
ihr Schicksal meistert«. Das wusste sie. Aber im Moment war sie ganz weit von
diesem Status entfernt. Leise schloss sie die Tür und ging hinunter in die
Küche. Sie goss sich ein Gläschen von Arnolds Sanddornkräuterbitter ein. Wenn
ihr Mann schon nicht da war, dann würde sie sich eben über seine letzte Kreation
hermachen. Der Bitter floss warm und beruhigend durch ihre Kehle und breitete
sich wohltuend im Magen aus.
Wie so oft gingen ihre Gedanken in die Zukunft. Was sollte
einmal aus Hilda werden, wenn Arnold und sie nicht mehr da wären? Oder nicht
mehr konnten? Arnold sagte immer gerne: »Mach dir man keine Sorgen. Das kriegen
wir schon hin«, wenn sie ihn auf dieses Thema ansprach. Aber im Moment konnte
sie ihn auf gar nichts ansprechen. Weil er schlicht und einfach nicht da war.
Sie schenkte sich noch einen Bitter ein. Sie merkte kaum, dass sich die Küchentür
leise öffnete. Erst als sie angesprochen wurde, schreckte sie auf.
»Darf ich reinkommen? Ich fühle mich so allein.« Klara Ufken
stand mit verweinten Augen vor ihr.
Margot nickte. »Setzen Sie sich. Mir geht es im Moment ähnlich.
Möchten Sie einen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf, holte ein Glas
aus dem Schrank und füllte es. »Prost. Auf dass alles einen guten Ausgang
nimmt.«
Klara Ufken seufzte nur, nahm ihr Glas und leerte es in einem
Zug. »Das tut gut!«, murmelte sie und schob es Margot entgegen. »Noch einen und
ich kann die Welt wieder ertragen, glaube ich.«
Margot lächelte die junge
Frau an. Wenn bloß alles so einfach wäre. Immerhin hatte es einen Todesfall
gegeben. Und wenn es Mord war, dann musste man immer mit einem weiteren
rechnen, solange der Täter nicht gefasst war. Zumindest war das die Essenz aus
vielen Krimis, die sie an langen Wintertagen verschlungen hatte. Aber ein
Versuch konnte nicht schaden. So füllte sie noch einmal etwas von der
rotbraunen Flüssigkeit in die Gläser.
»Haben Sie schon etwas von Ihrer Freundin gehört?«, fragte sie
behutsam.
»Nein. Nichts. Sie schaltet das Telefon immer aus, wenn meine
Nummer bei ihr auf dem Display auftaucht. Das wird wohl nichts mehr werden mit
uns. Dabei habe ich immer gedacht, wir würden zusammen alt«, sagte Klara
traurig. »Und nur wegen eines so blöden Missverständnisses ist alles vorbei.
Warum hat sie mir nicht vertraut? Das gehört doch zur Liebe dazu, oder?« Klara
sah Margot mit fragenden Augen an.
»Natürlich«, erwiderte sie. »Ohne Vertrauen geht gar nichts.«
Sie erschrak. Was erzählte sie da? Sie liebte Arnold. Doch sie hatte ihm
ebenfalls misstraut. Sie hatte sogar darüber nachgedacht, dass er derjenige
sein könnte, der … Margot schlug die Hände vors Gesicht.
»Was ist mit Ihnen?«, hörte sie Klaras Stimme aus ganz weiter
Ferne.
Du musst dich zusammennehmen, Margot, ermahnte sie sich, der
Bitter scheint dir zu Kopf zu steigen. Aber es war nicht der
Weitere Kostenlose Bücher