Baltrumer Bitter (German Edition)
direkt in die mit
Sträuchern bewachsene Kuhle zu lenken, die rechts den Weg begrenzte. Reiß dich
mal zusammen, rief er sich zur Ordnung. Aber er war fix und fertig. Sein Magen
revoltierte. Die Sache mit Lohmann hatte ihn geschafft. Er würde nicht mehr zu
Hanefeld fahren, sondern bei Fisch-Feldmann rechts abbiegen und wieder
ins Westdorf fahren. Zu seiner Familie.
Aber dann würde er morgen erst hören, ob er mit seiner
Vermutung richtig lag. Falls sein Kollege wieder gesund war. Ansonsten würde er
sich noch länger gedulden müssen. Er bog nun doch links ab und stand bald
darauf vor Hanefelds Haus.
Die schicke weiße Eingangstür war nur angelehnt. Arnold
klopfte. Einmal. Zweimal. Er schob langsam die Tür zur Seite und steckte seinen
Kopf in den Flur. »Georg?« Er horchte. Wartete. Aber nichts tat sich. Dann
sollte es eben so sein. Er ging zurück zu seinem Fahrrad und wollte es gerade
vom Zaum nehmen, als er ein Geräusch hörte. Es war wie ein dumpfes Klopfen und
schien von der Rückseite des Hauses zu kommen. Leise lief er den mit Muschelschalen
aufgeschütteten Weg nach hinten in den Garten. Auch hier war Georg nicht zu
sehen. Doch das Geräusch wurde lauter. Kam es aus dem Gartenhaus?
Arnold stieg über eine kleine Buchsbaumhecke und schaute durch
das Fenster. Der Schuppen schien leer zu sein. Er pochte an die Tür, rief noch
einmal verhalten: »Georg!«, aber wieder tat sich nichts. Nur das eintönige
Klopfen war immer noch da. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter, öffnete
die Tür, trat hinein und schaute sich neugierig um.
Ihm war, als ob sein Herz von einer eisernen Faust umfasst
wurde. Das konnte unmöglich sein! Das Letzte, was er sah, war ein Sonnenstrahl,
der sich einen Weg durch das Sprossenfenster gesucht hatte und genau auf ein
Bild traf, das verloren auf dem Fußboden lag.
*
Michael Röders Versuch, Enno Lohmann auf seinem Handy zu
erreichen, war erfolglos geblieben. Auch zu Hause war der Bürgermeister nicht.
Bevor er jetzt sämtliche Kneipen abfuhr, entschied Röder sich,
ihn erst einmal an den Buhnen zu suchen. »Jungs – und natürlich Mädel«, sagte
er mit einem knappen Blick zu Annalena, »ich mache mich auf den Weg. Amir nehme
ich mit. Wird wohl keiner was dagegen haben.« Sein Blick streifte den Kollegen
Kockwitz. Arndt Kleemann hob winkend eine Hand. Michael Röder klinkte die
Hundeleine ins Halsband. Amir war kaum zu halten. »Komm, wir gehen zu Fuß.«
Er lief an dem kleinen, weißen Holzhäuschen unterhalb der
Strandmauer vorbei und den neuen Weg entlang, der im Rahmen der Deichbaumaßnahmen
angelegt worden war. Er führte ihn kurz vor der Kuckucksdüne mit dem Seezeichen
darauf auf die Mauer. Röder blieb einen Moment stehen und suchte die Buhnen ab,
die sich wie lange Finger in einem goldenen Bett erstreckten. Das Meer war
ruhig. Kein Vergleich zum Tag davor, als der Tornado es aufgewühlt hatte. Die
Sonne blendete, und er musste seine Augen mit der flachen Hand abschirmen.
Buhne H direkt vor ihm war leer. Auf der Buhne G links davon
saßen zwei Angler auf ihren Hockern. Aber keiner von den beiden hatte auch nur
annähernd die Statur des Bürgermeisters. Auf Buhne F war kein Angler zu sehen.
Na, wenigstens hatte er sich und Amir noch einen schönen
Spaziergang gegönnt. Die Sonne stand jetzt direkt auf seiner Höhe und stach ihm
unangenehm in die Augen. Fast hatte er die hohe Düne erreicht, als Röder
Schreie hörte. Laute, unmenschliche Schreie, die ihn bis ins Mark erschütterten.
Er schaute sich um. Sah nichts. Doch er war sich sicher – da kämpfte jemand um
sein Leben. Die Schreie schienen vom Wasser her zu kommen.
Er band Amir an einen der Laternenmasten und kletterte, so
schnell er konnte, das Schrägdeckwerk hinab. In dem Sand unterhalb des
Deckwerkes bemerkte er eine zerbrochene Angel. Was war hier passiert? Da, auf
der Buhne war Bewegung. Wieder diese Schreie. Laut. Verzweifelt. »Ich bin
gleich da«, rief er, mehr um sich zu beruhigen. Plötzlich sah er jemanden
aufspringen.
Jan Wybrands kam ihm entgegengelaufen. Der Bauunternehmer
schaute ihn mit schreckgeweiteten Augen an, stolperte an ihm vorbei und rutschte
mit erhobenen Armen von den schwarzen Basaltsteinen. Röder sah, wie der Mann
bei jedem Schritt im weichen Sand einsackte. Er musste hinter ihm her, ihn
aufhalten. Aber noch wichtiger war es im Moment, herauszufinden, woher die
Schreie kamen, die durch die Sommernacht gellten. Oben auf der Strandmauer
waren ein paar Leute stehen geblieben
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