Baltrumer Bitter (German Edition)
und starrten neugierig zu ihm herunter.
Einen Moment lang erwog er, die Gaffer zur Jagd auf den Bauunternehmer zu
animieren. Doch das konnte schwer nach hinten losgehen. Für die Leute und auch
für Wybrands. Seine Kollegen und er würden sich selbst um den Flüchtenden
kümmern müssen.
Aber jetzt musste er erst wissen, wer diese unmenschlichen
Schreie ausstieß.
Gegen die untergehende Sonne konnte er vage Umrisse von etwas
ausmachen, das am Ende der Buhne lag. Ein dicker Seehund, war das Erste, was
ihm in den Sinn kam. Aber er hatte noch nie einen Seehund derart durchdringende
Laute ausstoßen hören. Obwohl – selbst ein kleiner Heuler konnte sich schon
kräftig bemerkbar machen. Nomen est omen. Aber warum war Wybrands dann …
Röder rannte los. Als er näher kam, wurde ihm schnell klar,
dass es kein Seehund war, der dort ausgestreckt auf der Buhne lag, sondern ein
Mensch. Dann erkannte er ihn. Es war sein Bürgermeister. Enno Lohmann. Der
Körper des Mannes zuckte unkontrolliert, das runde Gesicht war von Schmerz
entstellt. Über seine linke Wange zog sich eine tiefe, verkrustete Wunde. Die
rechte Gesichtshälfte war fast nicht wiederzuerkennen. Sie war aufgequollen und
dunkelblau unterlaufen. Dicke Speichelfäden liefen daran herunter. In den Augen
des Mannes stand nackte Panik. Er schien unter extremen Schmerzen am ganzen
Körper zu leiden. Seine Schreie hallten markerschütternd über das Wasser. Röder
war fast versucht, sich die Ohren zuzuhalten.
Er sah, wie sich Lohmanns Hände in sein schmuddeliges T-Shirt
krampften und es nach oben zogen. So als wolle er ihm etwas zeigen.
Gleichzeitig hatte er nicht das Gefühl, dass der Mann wusste, wo er war und wer
da neben ihm kniete. Lohmanns Körper schien aufgedunsen. Blaue Flecken
überzogen die Fettpolster um Lohmanns nicht vorhandene Taille.
Röder zog sein Handy aus der Tasche und benachrichtigte die
Ärztin und seine Kollegen.
»W… i… h…«
Was war das? Hatte der Bürgermeister ihm gerade etwas sagen
wollen? Er beugte sich über Lohmanns Gesicht, obwohl es ihm dank des
alkoholisierten Atems des Mannes nicht gerade leichtfiel. Tatsächlich. Lohmann
setzte zu einem neuen Versuch an. »Wybra…« Der Rest endete wieder einem nervenzerfetzenden
Schrei.
Nervös schaute Röder sich um. Das Wasser stieg. Alleine konnte
er den Mann nicht von der Buhne ziehen. Der wies eindeutig zu viel
Lebendgewicht auf. Wobei das mit dem »Lebend«, so wie es aussah, immer weniger
wurde. Lohmann griff sich ständig ans Herz. Stöhnte. Röder hatte das Gefühl,
dass Lohmanns Gesicht mit jeder Minute dicker und blauer wurde. Und – je mehr
die Kräfte des Mannes, der da zuckend auf der Buhne lag, nachließen, desto angstvoller
und verzweifelter wurde sein Stöhnen.
Wer hatte diesen Mann nur so zugerichtet? Bei wem war der Hass
so groß gewesen, dass er ihn hier, quasi mitten in der Öffentlichkeit, so
brutal zusammengeschlagen hatte? Wybrands, der völlig kopflos an Röder
vorbeigerannt war?
Warum war nicht einer von den Gästen aufmerksam geworden, die
oben auf der Mauer in den Sonnenuntergang spazierten? Röder dachte kurz an
seinen eigenen Gang über die Strandmauer. Auch er hatte herzlich wenig sehen können
gegen den untergehenden Ball, der den Himmel rot eingefärbt hatte. Und bis
Lohmann angefangen hatte zu schreien, war nichts von einem Kampf zu hören
gewesen.
Röder schaute auf die Uhr. Wo blieben die denn? Mit kräftiger
Stimme, wie um sich selbst zu beruhigen, sprach er auf Lohmann ein. Versuchte,
ihn bei Bewusstsein zu halten. Einen Moment überlegte er, die Hand des Mannes
zu nehmen. Aber er sah die dicken, über die Maßen geschwollenen blauen Finger
und brachte es nicht fertig.
Der Mann vor ihm wurde immer schwächer. Röder schaute sich um.
Ein grauer, leerer Plastikeimer rollte neben Lohmanns Kopf vom leichten Seewind
getrieben hin und her. Seine Angel lag an der Schräge der Buhne. Ein zusammengeklappter
Hocker gleich daneben. Röder stand auf und griff danach. Besser sicherstellen,
dachte er, bevor das Wasser die Sachen holt. Er war froh, dass sich kein Fisch
mehr an der Angel befand. Damit hatte er es noch nie gehabt, Fische mit einem
Haken im Körper zappeln zu sehen. Natürlich wusste er, dass die Fische, die man
aß, zuvor gefangen werden mussten. Aber sein Ding war es nicht. Genauso wenig
wie er einem Huhn den Kopf abdrehen konnte.
Wieder stöhnte Lohmann. Im selben Moment hörte Röder den
erlösenden Ton des Martinshorns, sah den
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