Baltrumer Bitter (German Edition)
Krankenwagen mit Blaulicht über die
Strandmauer rasen und zwei seiner Kollegen zügig die Schräge herunterkommen,
die zur Buhne führte. Annalena Siepkenewert war oben stehen geblieben und
nestelte an ihren Schuhen. Wollte sie barfuß die glitschige, mit Seepocken und
grünen Algen überzogene Buhne erobern? Er wollte ihr zurufen, dass das keine
gute Idee war, verkniff sich aber jeden Kommentar. Sie würde schon wissen, was
sie tat.
Sie hatten Lohmann auf die Trage gelegt. Nun galt es, den
Verletzten die Schräge hinauf bis zum Krankenwagen zu transportieren. Nicht
einfach, besonders bei dem Gewicht, das der Bürgermeister auf die Trage
brachte. Die Ärztin hatte seinen Kreislauf stabilisiert und seine Schmerzen zu
lindern versucht, zuckte aber nur mit den Schultern, als Röder sie nach den
Überlebenschancen des Mannes fragte.
»Kein Ahnung. Abwarten«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Ich
weiß auch nicht. Irgendwie kommt mir das alles etwas seltsam vor. Die Wunde im
Gesicht, die blauen Flecken, all das sieht nach einem heftigen Kampf aus. Aber
manches passt in diese Theorie einfach nicht rein. Schau her, siehst du diese
Wasserblasen? Sie sind über den ganzen Oberkörper verteilt. Besonders dort, wo
er dunkelblau angelaufen ist. Dann der Kreislaufzusammenbruch, die
Herzbeschwerden, seine extremen Schmerzen – irgendwas steckt dahinter, was
ich noch nicht einordnen kann. Sieht mir fast wie eine Vergiftung aus. Aber ich
finde es raus, darauf kannst du dich verlassen. Wer immer ihm das angetan hat,
hat ganze Arbeit geleistet.«
Wenn sie ihn nur schon im Fahrzeug hätten.
»Los, sechs Mann, sechs Ecken.« Maik Bernhard bückte sich nach
dem vorderen Griff, die Ärztin, Röder und seine Kollegen reihten sich ein. »Zugleich.«
Vorsichtig setzten sie sich in Bewegung, immer darauf bedacht, nicht auf dem Bewuchs
der Steine wegzurutschen.
Röder atmete auf. Sie hatten es rechtzeitig geschafft, bevor
das Wasser über den Buhnenkopf geschlagen war. Lohmann lag im Krankenwagen und
wurde von Dr. Neubert versorgt.
»Wir müssen los zum Flugplatz. Ich melde mich«, sagte sie. Dann
schloss Maik Bernhard die hintere Tür des KTWs. Gleich darauf röhrten bereits
die Rotoren des herannahenden Hubschraubers durch den Sommerabend. Michael
Röder blickte zurück auf die Buhne, die friedlich im letzten Sonnenlicht lag.
»Ich schaue mich noch einmal um. Muss auch noch sein Angelzeug holen.«
»Ich komme mit«, antwortete Arndt Kleemann. »Die anderen fahren
zum Hotel. Ich hoffe, die Bartels sitzt dort brav auf ihrem Stuhl, bewacht von
Berend. Aber so, wie die drauf ist, sollte es mich nicht wundern, wenn die
wieder abgehauen wäre.«
Langsam senkte sich Dunkelheit über das Wasser. »Sei
vorsichtig«, mahnte Röder. »Es ist arschglatt hier.«
Kleemann nickte. »Der Mann
sah übel aus, nicht? Gibt es hier auf der Insel eigentlich so etwas wie
militante Tierschützer? Könnte von der Seite etwas gekommen sein?«
»Glaube ich nicht. Habe ich zumindest noch nichts von gehört«,
überlegte Röder. »Ich denke, wir müssen uns viel eher auf Wybrands und …«
»Ja?«, hakte Kleemann nach.
Dem Inselpolizisten schoss durch den Kopf, was die Ärztin nach
der Erstversorgung gesagt hatte: »Habt ihr eigentlich mitbekommen, dass der Lohmann
ständig den Namen ›Steenken‹ gemurmelt hat, als ich ihm den Zugang gelegt habe?
War kaum zu verstehen, aber ich bin mir sicher. Wybrands!«, sagte Röder.
»Wybrands und Steenken. Diese Namen hat Lohmann genannt. Obwohl ich mir kaum denken
kann …«
Kleemann schaute ihn aufmerksam an. »Vorurteilsfrei und offen
für alles.«
Jetzt fing der auch noch an! »Kann man denn nicht mal seine
Überlegungen äußern?« Missmutig hob Röder die Angel und den Eimer auf, sah noch
einen zweiten, kleineren Eimer und bückte sich danach. In dem Behälter wanden
sich braune Leiber umeinander. Viele kleine, aber auch daumendicke Wattwürmer
warteten auf ihren Einsatz als Köder. Röder kippte das Eimerchen aus und gab
ihnen ihre Freiheit wieder. Er schüttelte sich. Ekelhaft. In einer Spalte
zwischen zwei großen Steinen machte ein Fisch seine letzten Zuckungen. Der Kopf
war halb abgerissen und es würde nicht lange dauern, bis sich ein paar
Silbermöwen mit lautem Kreischen auf der Buhne niederlassen und sich um diese
letzte Abendmahlzeit streiten würden.
»Hast du alles?« Kleemann hatte sich bereits auf den Rückweg
gemacht. »Wir sollten uns schnellstmöglich um die beiden Herren
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