Banalverkehr - Roman
Meine Mitschüler sind seltsam. Wie immer. Aber das macht nichts, denn es sind ja nur noch vier Jahre bis zum Abi, und danach, danach geht’s richtig los. Ich wittere eine große Karriere. Ich weiß zwar noch nicht so genau als was, aber den Duft von Geld, Ruhm und Erfolg, den kann ich schon jetzt erschnüffeln.
»Puppe? Passiert hier heute noch was?«
Und dann ist das Essen fertig, und meine Eltern und ich sitzen gemeinsam am Tisch. Wie immer. Und reden und lachen, und es ist gemütlich.
»Puppe!«, brüllt er und schiebt noch etwas unerhört Niveauloses hinterher. Ich zucke zusammen. Gemütlich … Hahaha, nein, Gemütlichkeit ist hier nun wirklich nicht zu haben.
»Puppe, ich will jetzt endlich …!« Niveau übrigens auch nicht. Lene würde einen Herzinfarkt bekommen.
»Ich glaube, ich gehe besser wieder«, sage ich einen Augenblick später, als ich im Türrahmen des Schlafzimmers stehe. Er setzt sich auf und schaut mich an, ein kurzer, verständnisloser Blick, dann legt er sich wieder hin und dreht sich in die Kissen. Ich bleibe stehen. Natürlich will ich gehen, aber es wäre auch schön, wenn jemand mich zum Bleiben überreden würde. Nicht wegen Sex, sondern wegen mir. Und weil es mir schlechtgeht. Weil ich jemanden brauche, jetzt, wo ich Lene nicht mehr habe. Es dauert keine zwei Minuten, bis er zu schnarchen beginnt, und ich schätze, das bedeutet, dass mich heute niemand zum Bleiben überreden wird.
Der Bürgersteig ist dreckig wie die meisten Bürgersteige in den meisten Großstädten. Es ist kurz vor neun, und aus sämtlichen Löchern kriechen Menschen, die sind wie ich, geschmückt, gelangweilt und bereit für die Nacht. Mädchen mit kurzen Röcken und junge Männer mit aufgestellten Hemdkrägen. Ich gehe heute nicht mit, ich kann nicht. Vielleicht kann ich schon lange nicht mehr, ich weiß es nicht.
Hundert Nummern in meinem Handy, aber trotzdem wüsste ich nicht, wen ich anrufen könnte.
»Pass doch auf!«, raunzt eine weibliche Stimme, nachdem ich, abgelenkt vom Durchstöbern der vielen Namen in meinem Telefonbuch, in einen Schwarm Ausgehwilliger geraten bin. Sie drängen sich an mir vorbei, von rechts, von links, und ich werde hin und her geschubst, bis ich ihn endlich durchdrungen habe. Vielleicht sollte ich Franzi anrufen. Sie ist meine Lieblingskollegin in der Agentur, ich glaube, wir könnten sogar Freundinnen werden, wenn sie nicht so anders wäre als ich. Ihren letzten Freund hatte sie vor drei Jahren, einen Schwarzen mit einem Riesengerät, das heute noch für eine tägliche Anekdote herhalten muss. Ich finde ja, dass Franzi endlich mal wieder Sex haben sollte, und empfehle ihr das regelmäßig, aber eine bedeutungslose Sexkapade käme für sie nie, nie, nie infrage. Pfui. Keine Ahnung, was sie sonst so in ihrer Freizeit macht. Irgendwann, daran glaubt sie ganz fest, lernt sie einen neuen tollen Typen kennen, und so lange begnügt sie sich mit Verbalverkehr und erzählt von den vielen Zentimetern, mit denen der letzte sie beeindruckt hat.
Nein, ich glaube, ich werde Franzi doch nicht anrufen. Ich müsste ihr erzählen, dass es mir schlechtgeht, und sie würde fragen, warum. Ja, wenn ich denn nur wüsste, warum. Warum Lene dieses beknackte Krapfen-Ding durchziehen will. Aber ich weiß es einfach nicht. Nein, das kann ich Franzi nicht antun, auf gar keinen Fall, so was ist sie nicht von mir gewöhnt. Dass ich keine Antwort auf eine Frage geben kann.
Kapitel 2 – Pisum sativum, unvergessen
Lutz! Ich werde Lutz anrufen! Er vergöttert mich! So sehr, dass er mir sofort ein paar seiner Organe abtreten würde. Das legitimiert seinen Status als Quasi-Freund, schließlich weiß man als gelegentlich exzessiver Alkoholkonsument gerne eine potenzielle neue Leber in seiner unmittelbaren Umgebung. Und das Beste: Lutz fragt nicht nach. Denn Lutz will es gar nicht wissen. Er hält mich für eine unberührte kleine Blume, die einfach noch nicht bereit ist, sich von ihm pflücken zu lassen. Lutz freut sich, wenn er einfach nur da sein darf, in der Hoffnung, dass jede nächste Stunde, die ich mit ihm verbringe, die Antwort ist auf die Frage, wann ich mich endlich entschließen kann, eine Beziehung mit ihm einzugehen. Natürlich habe ich ihm nie gesagt, dass es besser für ihn wäre, sich ein anderes Beet zu suchen. Bin ja nicht doof. Wer sollte sich denn sonst um den tropfenden Wasserhahn kümmern oder das zusammengekrachte Bettgestell reparieren? Was Letzteres angeht, hab ich selbstverständlich
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