Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Banalverkehr - Roman

Banalverkehr - Roman

Titel: Banalverkehr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
Vom Netzwerk:
riechen und tut etwas Nettes. Er kocht Tee oder irgendwas Leckeres zu Essen. Und ich kann ihn dann wieder hassen, weil er etwas Nettes tut, was ich nicht verdient habe. Es ist ausweglos, eine Spirale.
    »Mmh-allo?«
    Am anderen Ende der Leitung wird gekaut. Das kenne ich. Es ist halb neun, und seit ich denken kann, macht sich mein Vater täglich zur Primetime eine Dose gesalzene Erdnüsse auf und geht erst ins Bett, wenn sie leer ist.
    »Papa, ich bin’s. Ich muss euch was sagen.«
    Immerhin bin ich nun in der zehnten Woche, und Erbse hat angeblich schon zwei kleine Nasenlöcher. Typisch Großstadtkind. Noch kein Hirn, aber schon die Koks-Öffnung parat. Ich versuche mein Anliegen stotterfrei zu formulieren, was dazu führt, dass ich ein- und denselben Satz immer wieder neu anfangen muss. Irgendwie komme ich nie über das »Ich bin …« hinaus, während Papa munter weiterkaut.
    »Sag mal«, unterbricht er mich nach ein paar Minuten, »bist du schwanger oder was?« Mit eingespeicheltem Erdnussbrei im Mund klingt es natürlich eher wie »Schischu schanga oha wasch?«, aber wie gesagt, ich kenne diese Form der Kommunikation seit frühester Kindheit. Papa dagegen kennt einfach nur mich und weiß, dass, wenn mir die Worte fehlen, ich grundsätzlich ein ganz dickes Ei ausbrüte. Diesmal ist das Ei zwar eine Erbse und mit dreiundzwanzig Millimetern jetzt auch nicht ganz so dick, aber das wahre Ausmaß ist ja nicht messbar. Ich heule mal lieber schnell los. Für Sympathie. Ich kann das auf Knopfdruck! Na ja, ein bisschen schäme ich mich auch, also sind Tränen bestimmt nicht unpassend.
    Ich heule also mal ein bisschen weiter und sage noch mal: »Schwanger!«
    »Hascho verschanden. (Hab ich schon verstanden.)«
    Ich sag’s zur Sicherheit nochmal. Wenn man kaut, hört man nicht so gut. »Schwaaa-ngeeer!«
    »Verschaaan-deeen! (Verstaaan-deeen!)«
    Noch mal noch mal. Tragweite klarmachen. »Schwahangeeer!«
    »Fillinghe? (Vierlinge?)« »Nee, nur eins.«
    »Da hättas erse ›schanga‹ dochau gereich! (»Dann hätte das erste ›schwanger‹ doch auch gereicht!«)
    Mama sieht das übrigens genauso, nur deutlicher formuliert: »Eine Schwangerschaft ist kein Beinbruch.« Das spricht nicht nur für ein gutes Maß an Allgemeinbildung, sondern insgesamt für meine Eltern. Die Familie geht über alles. Ich gehe über alles. Und werde geliebt, egal was ich anstelle. Das war schon immer so: Meine Eltern haben mich auch dann noch geliebt, als ich, ein ehemals mehr als braves Kind, durchgeknallt bin, kaum dass ich volljährig war, und nachts die Autoschlüssel geklaut habe, um zu meinem neuen (ersten) Freund zu fahren. Und auch, als ich dabei das Auto beim Parken vor dem Haus meines Freundes gegen einen Laternenmast gesetzt habe, hat das ihrer Liebe keinen Abbruch getan. Oder als ich im Vollsuff ins Zuchtrosenbeet gekotzt habe. Oder als ich durch eine Verkettung unglücklicher Umstände – sagen wir, ich hätte heimlich aus dem Klofenster geraucht – das halbe Haus abgefackelt habe. Jetzt sind sie froh, dass ich nur schwanger bin.
    »Nur eins finde ich enttäuschend, Püppchen …«, sagt Mama, bevor wir auflegen, » … dass du uns nicht erzählt hast, dass du jetzt einen Freund hast.« Ich entschuldige mich und schiebe es auf »zu viel um die Ohren«, schließlich kann ich ihr schlecht sagen, dass Lutz eigentlich nicht von Bedeutung ist.
    Am Abend ist mir schlecht. Richtig schlecht. Also lege ich mich ins Bett und jammere ein bisschen. Lutz bringt mir Zwieback und Apfelschnitzchen. Wie Mama. Wenn ich früher krank war, hat sie mir auch immer einen Teller mit Zwieback ans Bett gebracht. Und einen Becher Tee. Manchmal war ich auch gar nicht krank, sondern hatte einfach keinen Bock oder als ich älter war, einen Kater. Das konnte Mama immer gut unterscheiden, und so lag dann auf dem Teller neben dem Zwieback manchmal auch ein Aspirin.
    Ich wünschte, Mama wäre hier und nicht Lutz. Irgendwann schlafe ich ein.
    Ich schlafe gerne, aber ich hasse das Einschlafen. Einschlafen ist ein bisschen wie Sterben.
    In dieser Nacht wache ich mehrmals auf. Ich friere, und gleichzeitig wälze ich mich in meinem Schweiß. Ich höre mich selbst stöhnen. Lutz drückt sich von hinten an mich und nimmt mich in den Arm. Das macht es noch schlimmer. Ich bekomme kaum noch Luft.
    Ich muss aufstehen.
    Ich muss aufs Klo.
    Ich blute.

Kapitel 3 – Analitäten des Geistes
    Am nächsten Morgen gehe ich zu Dr. Engels. Lutz kommt mit.
    Viereinhalb Stunden lang

Weitere Kostenlose Bücher