Bangkok Tattoo
verlieren, weißt du.«
Mitch antwortet nachdenklich: »Aber du hast dich heute beim Lunch so gut gemacht. Ich könnte ihnen sagen, daß du mit irgendeiner Handelsdelegation hier bist. Das kaufen sie mir sicher ab. Irgendwann wirst du sie sowieso kennenlernen müssen.«
»Nein.«
Mitzuverfolgen, wie sich wieder dieser Abgrund in seinem Geist auftut, ist unheimlich. Nur Kinder erleben für gewöhnlich so abrupte Stimmungsumschwünge. Plötzlich wirkt sein Gesicht wutverzerrt. In welcher Welt befinden sie sich gerade? Über welche Eltern sprechen sie? Der Senator und die Schwester sind schon vor Wochen aus seinen Schilderungen verschwunden, in der gegenwärtigen Version wurde er von einer exzentrischen Tante aufgezogen.
»Soll das heißen, du wirst mich nicht heiraten?«
Sein Staunen verrät seine Gedanken: Was, eine Dritte-Welt-Nutte läßt sich die Chance ihres Lebens entgehen?
»Ich will nicht drüber reden.«
»Ich aber. Chanya, tut mir leid, wenn ich das jetzt sage, aber so kann ich nicht mehr lange weitermachen, wirklich. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, wieviel ich aufs Spiel setze. Du schaust ja nicht mal in die Bibel rein, die ich dir geschenkt habe.«
Um ihn zum Schweigen zu bringen, sagt sie: »Na schön, dann lese ich eben die Bibel, und hinterher unterhalten wir uns.«
Sie hat keine Ahnung, warum die Bibellektüre Voraussetzung für ein Gespräch über die Heirat sein soll – schließlich hat er nie auch nur das geringste Interesse am Buddhismus gezeigt –, aber sie will, daß sich seine düstere Stimmung verflüchtigt. Zum erstenmal muß sie zugeben, daß der Alkohol eine nicht nur positive Wirkung auf diesen farang hat.
Als er weg ist, liest sie die vier Evangelien in der Thai-Übersetzung und wendet sich dann der Genesis zu. Nach einer Weile verliert sie die Lust. Noch nie im Leben hat sie einen solchen infantilen Humbug gehört. Offenbar handelt es sich beim Christentum um eine Religion der Wunder; die Blinden werden sehend, die Lahmen können wieder gehen, Menschen erstehen von den Toten auf, und dann ist da noch dieser mysteriöse Kerl, der in Rätseln spricht und mit den Kreuzigungsmalen unter den Lebenden wandelt. Und was ist mit dem natürlich männlichen Gott, der den ganzen Unsinn in Gang gebracht hat? Wie albern, die zwei Bäume im Paradies zu pflanzen und Adam und Eva dann den Genuß der Früchte zu verbieten. Ihrer Ansicht nach ist dieses Buch eine Projektion von Mitch Turners Phantasiewelt. Da findet sie die Simpsons spannender.
Sie hat es satt, von ihm mit Herablassung behandelt zu werden, und sagt ihm ganz offen, was sie von der Bibel der Christen hält. Sein Gesicht nimmt einen merkwürdigen Ausdruck an, und er runzelt die Stirn, bevor er erwidert: »Nun, wahrscheinlich hast du recht, und das Christentum ist absoluter Blödsinn. Weißt du, ich will später mal in die Politik, und in diesem Land muß man einer bestimmten Kirche angehören, um ganz nach oben zu kommen. Du hast mir gezeigt, daß noch ein langer Weg vor mir liegt. Dafür bin ich dir dankbar.«
Ihrerseits stirnrunzelnd stellt sie ihm eine Frage, die ihr vor Washington nie in den Sinn gekommen wäre. »Willst du irgendwann mal fürs Weiße Haus kandidieren?«
Mitch sieht sie sehr ernst an, als hätte sie seine geheimste Sehnsucht entdeckt. Er lächelt nachsichtig, gibt ihr jedoch keine Antwort.
Chanya findet das nicht mehr lustig. Dieser Mann besteht nur aus Finten; sein Geist schlägt Haken wie ein Hase und produziert sekündlich wechselnde Erklärungen. Vielleicht ist er tatsächlich wie geschaffen für die Politik?
Chanya stellt fest, daß sich ihre Beziehung von diesem Augenblick an verschlechtert und der Alkohol eine negative Wirkung auf ihn hat. Nach seinem Genuß wird Mitch immer unangenehmer, und so hört sie auf, ihm Wein zu geben. Nun beginnt er, zum erstenmal im Leben (behauptet er), zu Hause zu trinken. Allmählich ist sie die ständigen Auseinandersetzungen leid. In ihrem Tagebuch berichtet sie lediglich über einen Streit, in dem Mitch sich auf die Seite des Feminismus schlägt.
»In diesem Land«, so Chanya, »sind alle Frauen Männer; hier gibt es nur Männer. Die eine Hälfte hat Muschis, die andere Schwänze, aber ihr seid alle Männer. Die Frauen gehen und reden wie Männer, sie beschimpfen sich gegenseitig als Arschlöcher, genau wie die Männer. Mit anderen Worten: Zweihundertachtzig Millionen Menschen sind auf der Suche nach etwas Weichem zum Bumsen.« Sie bedenkt ihn mit ihrem
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