Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
noch schien es dem Verwundeten nicht spürbar anders zu gehen, und Royal fand sich vor einer unaufschiebbaren Gewissensentscheidung. Sollte Tobias nicht doch lieber Dr. Habersham holen, selbst auf die Gefahr hin, daß er Damon Routhland verraten würde? War das Gefängnis in der Obhut eines Doktors nicht immer noch besser als vielleicht der sichere Tod? Was sollte sie nur tun? Sie nahm den Fächer mit dem Elfenbeingriff von dem Tischchen, öffnete ihn und bewegte ihn über Routhlands Kopf hin und her.
Schließlich kam Alba Beemish geschäftig herein, bemerkte die dunklen Ringe unter den Augen ihrer Herrin. Sie nahm Royal den Fächer aus der Hand und fragte: „Wie geht es dem Colonel?“
„Unverändert, wie es scheint, Alba. Ob wir nicht doch nach dem Arzt schicken sollten? Ich kann mich nur nicht dazu entschließen.“
„Fürs erste sollten Sie sich endlich einmal selber ein bißchen Ruhe gönnen, Miss Royal. Sie sehen ja zum Umfallen müde aus. Lassen Sie mich weiter hierbleiben, und legen Sie sich ein wenig hin. Ich habe für Sie unten im Speisezimmer zum Frühstück gedeckt. Sie müssen auch etwas essen, damit Sie wieder zu Kräften kommen.“
Royal nickte. „Sie haben recht. Es ist zwar viel zu heiß, um auch nur einen Bissen hinunterzubringen, aber ich werde ein Bad nehmen und mich umziehen. Sollte sich etwas im Befinden meines Vormundes ändern, rufen Sie mich bitte auf der Stelle, Alba.“
Um dem geliebten Kranken ja nicht zu lange fern zu sein, beeilte sich Royal, badete hastig, schlüpfte in ein leichtes rosenfarbenes Batistkleid und band das Haar mit einem passenden Seidenstreifen zurück. Als sie wieder in das Gästezimmer trat, warf Alba ihr einen mißbilligenden Blick zu und runzelte die Stirn.
„Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie in den paar Minuten schon gefrühstückt, gebadet und sich umgezogen haben, Miss Royal?“ tadelte sie und fächelte dem Colonel unentwegt Kühlung zu.
„Ich kann nichts essen, solange Mr. Routhland nicht wieder bei klaren Sinnen ist“, widersprach sie. „Ich kann es einfach nicht, Alba. Sie können jetzt wieder hinuntergehen. Ich bleibe noch eine Weile bei ihm.“
Alba schien unschlüssig, ob sie zustimmen oder entrüstet ablehnen sollte, und entschloß sich endlich für das erstere. Sie überließ ihrer jungen Herrin den Fächer und stand auf. Bevor sie die Tür hinter sich zuzog, warf sie Royal noch einen schrägen Blick zu.
„Wenn Sie noch lang so weitermachen, sind Sie selbst demnächst krank, Miss Royal“, sagte sie bekümmert. „Denken Sie bloß daran.“
Obwohl Royal die Vorhänge längst zugezogen hatte, um die späte Nachmittagssonne auszuschließen, wurde die Hitze in dem Krankenzimmer schnell unerträglich. Das Kleid klebte ihr am Körper, und obgleich Tobias auf ihren Befehl hin den Schlafenden am ganzen Körper kühl abgewaschen hatte, blieb das Fieber unverändert hoch. Aus dem Schlummer schien Damon Routhland wieder in tiefe Bewußtlosigkeit zurückgefallen zu sein.
Plötzlich hörte Royal die Stimme der aufgeregten Haushälterin draußen auf dem Korridor und fragte sich bestürzt, was denn nun schon wieder geschehen sein mochte.
„Sie können nicht in dieses Zimmer. Es ist mir vollkommen gleichgültig, auch wenn Sie ein noch so hoher britischer Offizier sind. Da drinnen liegt ein Kranker, und ich lasse Sie nicht zu ihm.“
Die geschlossene Tür dämpfte den Klang, so daß Royal nichts von dem vernahm, was der Angesprochene zur Antwort gab. Wer auch immer das war, wie der Engel mit dem Flammenschwert verweigerte Alba Beemish dem Besucher den Eintritt in Damon Routhlands Krankenzimmer. Jetzt konnte Royal besser verstehen.
„Ich bin ein guter Freund und habe einen Arzt mitgebracht, der Ihrem Patienten helfen soll.“
„Wir brauchen keine Hilfe von einem Engländer“, versetzte Alba entschlossen. „Verlassen Sie sofort dieses Haus, Sir.“
Royal trat vor das Bett, besorgt um Damon Routhlands Sicherheit. Das Herz klopfte ihr wie ein Hammer, als sie bemerkte, wie von draußen die Klinke niedergedrückt wurde. Hochaufgerichtet stand sie da, umklammerte den Fächer, als wäre er eine Waffe zur Verteidigung des Bewußtlosen. Sie dachte an die Pistole des Vaters, die in seinem Schreibtisch eingeschlossen war, und wünschte, sie läge nun in ihrer Hand. Unter keinen Umständen würde sie zulassen, daß jemand Damon Routhland etwas zuleide tat, und wollte notfalls sogar kämpfen, um ihn zu verteidigen.
Jetzt ging die Tür auf.
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