Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
Seite. „Was ist geschehen? Wir haben uns solche Sorgen um Sie gemacht, liebste Alissa. Sie hatten doch nicht etwa einen Unfall?“
„Ich bin um Haaresbreite dem Tod entronnen“, erwiderte Lady Alissa leise. „Royal hat mir das Leben gerettet.“ Sie ließ den Blick langsam über die Mädchen gleiten, die sie alle verständnislos anstarrten. „Ich würde es von nun als persönliche Beleidigung empfinden, wenn jemand von Ihnen meine Freundin kränkte.“ Die Stimme hatte einen sehr warnenden Unterton.
Zwei Reitknechte hoben die junge Lady aus dem Sattel.
Sofort drängten sich ihre persönlichen Diener um sie. Die Lehrerinnen, im nachhinein entsetzt und wie vor den Kopf gestoßen, bemühten sich um sie. Die Mitschülerinnen bestürmten sie mit Fragen, wie es denn zu einem solchen Unfall habe kommen können.
Royal warf Lady Alissa einen mißbilligenden Blick zu. „Schmeichler und Speichellecker“, sagte sie leise, aber hörbar.
Die junge Lady lächelte verständnisinnig. „Wenn ihr wissen wollt, wie sich alles ereignet hat, dann fragt meine beste Freundin Royal.“ Mit einem kurzen Nicken verständigten sich die beiden Mädchen.
Was doch einige wenige Worte verändert hatten, ausgesprochen von der Schwester des Duke of Chiswick! Als verfemte Außenseiterin war Royal Bradford an diesem Tag hinausgeritten. Nun war sie der umschwärmte Mittelpunkt. Dennoch wußte sie, daß sie in dieser Stunde weit mehr gewonnen hatte als die Aufnahme in den Kreis der Schülerinnen von Fulham School. Sie hatte eine Freundin gefunden.
Auf der Rückfahrt nach London bestand Lady Alissa darauf, daß nur Royal mit ihr im Wagen sitzen solle. Als die Kutschen die baumbestandene Chaussee entlangrollten, überlegte Royal, wie doch die Umstände ein Leben ganz entscheidend berühren und zum Besseren wenden konnten. Wären die Pferde vor dem leichten Gefährt nicht wegen des Donners durchgegangen, hätte es keine Errettung Lady Alissas gegeben, und Royal Bradford wäre nach wie vor die „Neue aus den Kolonien“, ausgestoßen, verachtet, gehaßt.
„Ich beneide Sie, Royal“, gestand jetzt Lady Alissa, „wegen Ihres Stolzes und Ihrer Freundlichkeit.“
„Ich bin zu stolz.“
Alissa Seaton lächelte und schaute auf das zerrissene und erdfleckige Kleid. „Sie kennen wohl keinen Neid, nicht wahr?“
„Sie irren, Alissa. Ich habe Sie um die Freundschaft beneidet, die Sie mit den anderen zu verbinden schien.“
„Ich ahnte wohl in Ihnen, was ich selbst nicht hatte, nämlich eine echte Freundlichkeit allem gegenüber. Und weil ich darauf neidisch war, wollte ich es zerstören. Jetzt bin ich sehr froh, daß mir das nicht gelungen ist.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Nein, das können Sie auch nicht.“ Lady Alissa zupfte einen Grashalm vom Saum ihres Rockes und warf ihn aus der Kutsche. „Dennoch glauben Sie mir hoffentlich, wenn ich Ihnen versichere, daß ich nichts mit dem Diebstahl von Mrs. Hargroves Brosche zu tun hatte.“
„Darüber habe ich mich gewundert. Auch frage ich mich, wie es Mrs. Fortescue so schnell möglich war, die Wahrheit herauszufinden.“
„Wußten Sie, daß Kathleen die Brosche unter Ihrer Matratze versteckt hatte?“
„Ich vermutete es wenigstens.“
„Als ich erfuhr, was Kathleen getan hatte, bestand ich darauf, daß sie es Mrs. Fortescue gestand. Im Grunde war ich mit Kathleen Griffin nie wirklich befreundet.“
Royal zuckte die Schultern. „Lassen wir das. Es ist vorbei.“
„Könnten wir nicht vergessen, was geschehen ist, und von nun an Freundinnen sein, Royal?“
„Das möchte ich sehr gern.“
Lady Alissa lächelte und zupfte ein Blatt aus Royals Haar. „Erzählen Sie mir von Ihrem Leben, wie es war, bevor Sie nach England kamen. Ich möchte mehr über Sie wissen. Wahrscheinlich wollte ich Sie immer schon näher kennenlernen und habe es mir bloß nicht eingestanden. Ich hätte keine Frage über die Lippen gebracht.“
Nur zu rasch verging den beiden Freundinnen die Zeit auf der Rückfahrt. Als der Wagen die Stadtgrenze von London erreicht hatte, faßte Lady Alissa Royal bei der Hand und fragte: „Würden Sie mir helfen, Royal?“
„Sehr gern, aber wie kann ich das?“
„Ich will gehen lernen.“
In Royals Augen trat ein Leuchten. „Und Sie meinen, daß es wirklich möglich sein wird?“
„Ich bin dessen ganz sicher. Während unseres Gespräches verspürte ich die ganze Zeit ein Kribbeln in den Beinen. Wenn das Gefühl wiedergekehrt ist, werde ich mich auch bewegen
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