Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
trieb Enchantress noch einmal an, und endlich erreichten sie die Höhe des Gefährtes. Flehend streckte Alissa der Reiterin die Hand hin. Royal sah den Waldrand, der sich wie eine tödliche Mauer vor ihnen auftürmte. Der Wagen würde an der ersten Reihe der dicht stehenden Baumstämme zertrümmert werden. Auch Lady Alissa erkannte die Gefahr und schrie auf.
„Hilfe, helfen Sie mir!“
„Festhalten“, rief Royal gegen den Donner an, der eben wieder so laut dröhnte, daß die Erde bebte, „ich komme.“
Schon gelang es ihr, die Hand der jungen Lady zu berühren, da wurde die Kutsche über einen Steinblock gerissen, und Alissa mußte sich blitzschnell an die Seite klammern, um nicht hinausgeschleudert zu werden. Royal wußte, wenn es ihr nicht im nächsten Augenblick gelang, Lady Alissa aus dem Wagen zu befreien, würde es eine Katastrophe geben.
5. KAPITEL
Schon schlugen die ersten Zweige Royal ins Gesicht. Sie beachtete den Schmerz nicht und preschte weiter. Die Pferde, außer sich vor Angst vor dem Gewitter, galoppierten jetzt am Waldrand entlang, geradewegs auf eine Schlucht zu, die sich unversehens auftat.
„Helfen Sie mir, Royal“, schrie Lady Alissa gellend. „Ich will nicht sterben.“
Als hätte sie nie etwas anderes getan, setzte Enchantress über umgestürzte Bäume, Wurzeln und Steinbrocken und hielt mit dem Wagen Schritt, der sich wie ein Spielball auf und nieder bewegte. Wieder beugte sich Royal aus dem Sattel, und diesmal gelang es ihr, den Arm der Gelähmten zu umklammern. Später hätte Royal nicht sagen können, woher sie die Kraft nahm, mit einer Hand Lady Alissa halb aus dem Wagen zu heben. Sekundenlang hing sie in der Luft, versuchte unter Aufbietung allen Willens, wenigstens ein Bein über den Rücken der dahinjagenden Stute zu bringen. Umsonst. Die bewegungsentwöhnten Glieder versagten jeden Dienst.
„Noch einmal“, schrie Royal, als sie die Anstrengung des verzweifelten Mädchens bemerkte. „Ich kann Sie nicht mehr lange so halten. Sie müssen mithelfen.“
Etwas in den blauen, weitaufgerissenen Augen Royal Bradfords zwang Lady Alissa, nicht aufzugeben. Am ganzen Leibe zitternd, krümmte sie den schmalen Körper, während Royal ihren Arm umfaßt hielt, biß die Zähne zusammen und setzte alles daran, die Beine zum Gehorsam zu zwingen. Das Haar hatte sich gelöst und schlug ihr ins Gesicht. Mit einer ungeduldigen Bewegung warf Alissa Seaton den Kopf zurück. Nie in ihrem ganzen Leben hatte sie solche Todesangst empfunden, aber auch nicht soviel Kraft, wie sie aus dem Blick der Reiterin überströmte und das Unmögliche möglich zu machen schien. Ein Schrei gellte von Lady Alissas Lippen, als sie sich über das Pferd warf.
Royal ließ den Zügel los, so daß sie Lady Alissa ganz aus dem Wagen reißen konnte. Im nächsten Augenblick hatten sich die verstörten Kutschenpferde befreit, das leichte Gefährt stürzte, sich überschlagend, in die Tiefe. In den Ohren der beiden Mädchen war noch ein Splittern, ein Bersten und Krachen, bevor sich atemlose Stille über die Landschaft senkte.
Inzwischen kämpfte Royal darum, die Gelähmte vor sich auf den Sattel zu ziehen, damit sie nicht stürzte. Royal hatte das Gefühl, die Arme würden ihr aus den Schultergelenken gedreht. Sie lenkte Enchantress nur mit den Schenkeln, den Knien und konnte endlich mit letzter Kraft Lady Alissa sicher vor sich festhalten.
Beide Mädchen waren zu erschöpft, um wahrzunehmen, daß die junge Lady die Beine bewegt hatte. Royal atmete schwer, und Alissa empfand nichts außer grenzenloser Erleichterung, noch am Leben zu sein. Jetzt erst brachte Royal die Stute zum Stehen. Beide starrten sie aus dann schreckgeweiteten Augen auf die Stelle dicht vor ihnen, an der die Kutsche über den Rand der Schlucht in den Abgrund geschleudert worden war. Zugleich begriffen sie, daß Lady Alissa, wäre sie noch in dem Wagen gewesen, jetzt mit zerschmetterten Gliedern da unten läge.
„Ich bin ein bißchen außer Atem“, flüsterte Alissa Seaton tonlos. „Könnten wir vielleicht kurz auf festem Boden verschnaufen. Ich glaube, daß ich mich nicht länger auf diesem Pferd halten kann.“
Royal nickte. „Lassen Sie mich zuerst absteigen, damit ich Ihnen herunterhelfen kann.“ Damit glitt sie aus dem Sattel und streckte Alissa die Arme entgegen. „Wenn Sie sich mir anvertrauen, ich ertrage Ihr Gewicht.“
Lady Alissa lächelte schwach. „Anvertrauen? Sie haben mir gerade das Leben gerettet und Ihr eigenes dabei
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