Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
Zeit für Lady Alissa, ihre Verwandten und Freunde zu überraschen. Den ersten Schritt bemerkte freilich nur Royal. Langsam stand die junge Lady auf und trat vor, immer noch den Blick fest auf die Freundin gerichtet, als käme von dort die Kraft und Ermutigung.
Dann näherte sich Lady Alissa ihrer Mutter, und alle Anwesenden erstarrten. Die verwitwete Duchess stieß einen leisen Schrei aus. Sie traute nicht den eigenen Augen. Und gewiß wäre sie aufgesprungen und auf ihre Tochter zugeeilt, hätte ihr Sohn ihr nicht behutsam die Hand auf den Arm gelegt und sie daran gehindert.
Freilich war auch Lord Preston von Rührung überwältigt, als er sah, daß seine bisher gelähmte Schwester wieder gehen konnte. Liebevoll flüsterte er der Dowager Duchess zu: „Es ist so wichtig, daß Alissa auf Sie zukommt, Mama.“
Jetzt waren alle Blicke auf Lady Alissa gerichtet, die zögernd und langsam durch den Raum schritt, einige Male stehenblieb, als müßte sie sich fassen. Einmal stolperte sie beinahe, doch sie ging weiter, geradewegs auf ihre Mutter zu.
Mrs. Fortescue schaute fassungslos auf die junge Lady. Die Schülerinnen verfolgten mit großen Augen jede Bewegung Alissas, und wünschten ihr, sie möge ihr Ziel erreichen.
Ohne es zu merken, hob Royal die Hand und wischte sich die Tränen von den Wangen. Noch nie war sie so glücklich, so stolz gewesen. Niemals würde sie vergessen, wie strahlend Lady Alissa in ihrem Triumph wirkte. Keiner im Musiksalon hätte sich wohl in dieser Stunde vorstellen können, wie unermüdlich und unverzagt sie an sich gearbeitet hatte, um die geliebte Mutter an diesem Abend zu überraschen.
Lady Alissa stand nun vor der Dowager Duchess of Chiswick und hielt ihr die Blumen entgegen.
„Für Sie, Mama.“
Keines Wortes mächtig, schloß die Duchess ihre Tochter in die Arme. Alle drängten sich heran und machten dem vollen Herzen freudig Luft. Royal strömten die Tränen über das Gesicht. Sie beachtete es nicht, bis hinter ihr eine dunkle Stimme hörbar wurde.
„Nun, Miss Bradford?“
Sie drehte sich um und sah sich Lord Preston gegenüber. Mit einer Geste auf Lady Alissa hin brachte Royal mühsam die Frage hervor: „Ist sie nicht wunderbar?“
„Wunderbar, ja“, wiederholte er und konnte den Blick nicht von den glitzernden Tränen abwenden, die sich immer wieder von den dunklen Wimpern lösten. „Wirklich wunderbar.“
Royal stand in einer schattendunklen Ecke des Ballsaales und beobachtete die Tanzenden unbeteiligt. Sie bedauerte es nicht etwa, daß die Trauer um den Vater sie noch davon abhielt, sich unter die festlichen Menschen zu mischen. Zu sehr freute sie sich an Lady Alissas gelungener Überraschung, an der Tatsache, daß die Freundin wieder gehen konnte. Unbewußt wippte dabei die Fußspitze im Takt der Musik. Plötzlich stand Lord Preston neben Royal.
„Meine Schwester hat mir alles über Ihre unerschrockene Haltung bei dem Unfall erzählt. Das war eine reiterliche Großtat, Miss Bradford. Überaus lobenswert, ganz ausgezeichnet.“
„Sie schätzen mich zu hoch ein, Lord Preston. Es war halb so viel Mut im Spiel, wie Sie anzunehmen scheinen.“
Mit blitzenden Augen schaute er auf sie nieder. „Vielleicht könnten wir manchmal miteinander ausreiten. Dann dürfte ich mich selbst davon überzeugen.“
Dieses Geschöpf hatte die klarsten blauen Augen, in die er jemals geblickt hatte. Er räusperte sich und sagte: „Meine Schwester hat uns auch über Ihre großartige Freundschaft zu ihr berichtet. Wir wußten bisher nur, daß Sie Alissa das Leben gerettet haben. Daß Sie sie auch ermutigt und unterstützt haben in den Bemühungen, die nun zu einem so wunderbaren Ergebnis führten, war ebenso tapfer. Wie können wir Ihnen jemals danken?“
„Sie dürfen nicht annehmen, daß ich viel dazu getan hätte, Lord Preston. Die Zuversicht und Ausdauer Ihrer Schwester haben sie dazu gebracht, heute wieder gehen zu können.“
Der junge Lord war bisher noch keinem Mädchen begegnet, das ein Lob so verlegen gemacht hätte. Alissa hatte wohl recht. Dieses Geschöpf war beinahe zu gut, um sich in dieser Welt zu behaupten. Und gerade das zog Lord Preston an Royal Bradford unwiderstehlich an.
„Von meiner Schwester habe ich auch erfahren, daß Sie noch Trauer um Ihren Vater tragen, Miss Bradford. Sie sind noch viel zu jung, als daß man Sie des Vergnügens zu tanzen berauben sollte.“
Sie lächelte ein wenig schüchtern und zögerte mit der Antwort, während der Blick auf ihn
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