Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
können, und dann kann ich bald gehen.“
„Wunderbar. Natürlich will ich alles tun, Ihnen dabei zu helfen. Aber sollten wir nicht wenigstens Mrs. Fortescue einweihen, damit sie einen Arzt kommen läßt, der Sie untersucht?“
„Nein, eben nicht. Ich habe einen Plan, und nur Sie können es mir ermöglichen, ihn in die Tat umzusetzen.“
„Und welch ein Plan wäre das?“ erkundigte sich Royal aufgeregt.
„In zwei Monaten ist der große Galaabend der Fulham School.“ Auch Lady Alissa schien ziemlich aufgeregt und lachte leise. „Bei dieser Gelegenheit möchte ich tanzen können.“
„Ob sich das so schnell machen läßt?“ Royal war besorgt, ihre neue Freundin könnte eine herbe Enttäuschung erleben.
„Würden Sie denn jeden Tag um …“ Lady Alissa überlegte. „Sagen wir, um drei, wenn wir ruhen sollen, zu mir auf mein Zimmer kommen. Dann könnten wir üben.“
„Gewiß, aber wie halten wir die anderen Mädchen fern? Die sollen doch auch nichts ahnen, oder?“
Die beiden Verschwörerinnen steckten eifrig die Köpfe zusammen.
„Ich hab’s“, rief Lady Alissa endlich aus. „Spielen Sie Schach?“
„Ja, natürlich.“
„Großartig. Dann erzählen wir allen, daß Sie mir dieses Spiel beibringen werden. Damit das keine Lüge ist, verwenden wir eine Viertelstunde wirklich dafür. In der übrigen Zeit mache ich dann meine Gehversuche.“
„Und wie soll das vor sich gehen?“
„Unser Hausarzt war immer schon der Meinung, regelmäßige Massage der Beine und heiße Kompressen könnten dazu beitragen, die Lähmung zu beseitigen. Dazu brauchen wir keinen Arzt.“
Alissas Begeisterung begann auch Royal mitzureißen. „Ja, Sie werden schon bald wieder gehen können. Ich fühle es.“
Und tatsächlich ging Royal Bradford von nun an täglich mit dem Schachbrett unter dem Arm in Lady Alissa Seatons Zimmer. Nach einer kurzen Zeit vergaßen die Mädchen freilich das Spiel, denn die Beine der jungen Lady wurden ungewöhnlich rasch kräftiger, ihre Bewegungen sicherer. Trotzdem war es ein langer und mühsamer Weg, den Alissa vor sich hatte. Wenn sie aber wirklich einmal matt wurde und den Mut zu verlieren drohte, hinderte Royal sie daran, die Flinte ins Korn zu werfen, tröstete sie und gab ihr immer wieder von neuem Mut zum Weitermachen.
Eines Tages schließlich gelang es Lady Alissa, den ersten und entscheidenden Schritt selbständig und ohne Hilfe zu tun. Dann einen zweiten, noch einen und noch einen.
*
Liebster Papa,
ich kann es kaum erwarten, daß die Abendgesellschaft beginnt Es wird eine so freudige Überraschung für Alissas Familie sein, wenn sie erfahren, daß Alissa wieder gehen kann.
Auch Du würdest Alissa gern mögen, Papa. Sie ist ein tapferes Mädchen und hat ein sehr gutes Wesen. Jeden Morgen wache ich nun auf in dem Bewußtsein, eine Freundin zu haben. Ich bin nicht mehr einsam. O Papa, wie richtig war es doch von Dir, darauf zu bestehen, daß ich zur Vervollständigung meiner Erziehung nach England und auf die Fulham School geschickt würde.
An diesem Abend würde also endlich die große Gala stattfinden, der alle Schülerinnen der altehrwürdigen Fulham School seit langem entgegengefiebert hatten. Bei dieser Gelegenheit würden die jungen Damen den mühsam erworbenen gesellschaftlichen Schliff an den jungen Herren erproben können, denen die heißbegehrten Einladungen gesandt worden waren. Jedes Mädchen würde seine eleganteste Robe zur Schau stellen und die Verwandten und Freunde bezaubern.
Royal betrachtete sich im Spiegel. Das Trauerjahr war noch nicht ganz abgelaufen, und so trug sie schwarzen Samt. Das Kleid betonte die schlanke Taille und fiel in weichen Falten über den weiten Unterrock. Das goldblonde Haar war ganz natürlich frisiert und wirkte ein wenig, als wäre eben ein sanfter Windstoß hindurchgeweht. Royal fand sich selbst farblos und unbedeutend. So steckte sie noch die Perlenbrosche an den hohen Kragen und wandte sich zu der Zofe herum.
„Ach, Hannah, Sie sollten Lady Alissas neue Toilette sehen! Zitronengelbe Taftseide, am Ausschnitt und an den Manschetten mit Goldfäden und Perlen bestickt. Ein wahrer Traum, atemberaubend.“
„Sie sehen aber auch sehr hübsch aus, Miss Royal“, versicherte die Getreue.
„Das ist lieb von Ihnen, Hannah, aber so kann ich mich wohl kaum mit einer jungen Lady in einer Robe aus Paris vergleichen. Doch das ist auch gar nicht so wichtig.“
Royal sah nur das schlichte Trauerkleid, die noch nicht ganz
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