Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
sich um Miss Royal kümmern.“
„Hast du überhaupt schon daran gedacht, daß wir mit gebundenen Händen dastehen, egal, was geschieht? Ob nun Miss Arabella die Vormundschaft über Miss Royal zugesprochen wird oder diesem Cousin? Entweder nimmt Miss Arabella das Kind mit nach Frankreich, oder dieser Victor Bradford holt es von hier weg. Wer kennt ihn überhaupt? In all den Jahren, die wir im Hause waren, hat man seinen Namen kaum einmal gehört.“ Sie seufzte. „Wenn er auch nie darüber gesprochen hat, hatte ich doch immer das Gefühl, daß Mr. Bradford diesen Cousin nicht ausstehen konnte. Und ich bin auch ganz sicher, daß es mir ähnlich ergehen würde, wenn ich Victor Bradford kennenlernte.“
Mit der Geduld, welche die Übung vieler Jahre verriet, streichelte Tobias die Schulter seiner Frau. „Nicht jeder Mensch kann so sein, wie wir es von ihm erwarten, meine Liebe.“
Alba war nicht so leicht zu beruhigen. „Ist es nicht recht sonderbar, daß sie sich nicht haben blicken lassen, solange Mr. Bradford so krank war? Nun haben sie es plötzlich sehr eilig, nachdem er tot ist und sich nicht mehr wehren kann. Der Rechtsanwalt sagte, sie könnten jeden Moment eintreffen.“
Sie schnaufte verächtlich. „Natürlich haben sie es nicht der Mühe wert gefunden, der Beisetzung beizuwohnen. Aber du kannst sicher sein, daß sie rechtzeitig zur Testamentseröffnung hier sein werden.“
Tobias drehte seine Frau zu sich herum. „Es steht uns nicht zu, Alba, uns da einzumischen“, mahnte er. „Außerdem ist es nicht anzunehmen, daß Mr. Bradford seine Tochter zurückgelassen hat, ohne für ihre Zukunft klare Richtlinien bestimmt zu haben. Nach der Bekanntgabe seines Letzten Willens werden wir alles wissen.“
Alba musterte Tobias mit einem nachdenklichen Blick, redete dann freilich weiter, als hätte sie seinen Einwand gar nicht gehört. „Miss Royal ist ein ungewöhnliches junges Mädchen. Wie tapfer hat sie sich doch gehalten während des letzten Jahres, als ihr Vater so krank war? Nur durch ihre Liebe und ihre aufopfernde Zuwendung ist es überhaupt erst möglich geworden, daß unser Herr in Frieden und Würde sterben konnte. Wir haben beide mit ansehen können, wie Miss Royal eine Verantwortung dieser Art auf sich nahm mit einer Entschlossenheit und einem Verständnis, das weit über ihre Jahre hinausgeht. Vielleicht mache ich mir ganz umsonst Sorgen.“
Tobias Beemish nickte ihr zu. „Sei beruhigt, Frau. Unsere junge Herrin hat einen starken Charakter, der sie bisher recht gut durch Anfechtungen und Schwierigkeiten geführt hat. Es ist ausgeschlossen, daß ihr Mut sie jemals verlassen könnte, wenn sie ihn wirklich nötig hat. Sie ist eine Kämpfernatur und läßt sich nicht so leicht niederbeugen. Man kann jeden nur bemitleiden, der Miss Royals Sanftheit etwa für Schwäche hält.“
„Trotzdem“, seufzte Alba, „trotzdem habe ich Befürchtungen, was die Zukunft angeht. Was soll werden, wenn … wenn …“
Tobias streckte die Hände in die Taschen und paffte seine Pfeife, die ihm im Mundwinkel hing. „Alba, ich meine, darüber brauchen wir jetzt nicht länger zu reden. Mal den Teufel nicht an die Wand. Was auch geschehen mag, wir werden es nicht wesentlich ändern können. So laß uns geduldig abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Wir werden schon sehen.“
*
Der Wind zerrte an Royals Pelerine und wehte sie ihr eng um den Körper. Sie hielt die gelben Chrysanthemen fest, die ihr Vater immer so sehr geliebt hatte, und beeilte sich, die Straße zu dem Kirchhof einzuschlagen, auf dem beide Eltern begraben lagen.
Der Tag war trostlos. Rauchgraue Wolken verdeckten die Sonne, und der Wind wirbelte die Herbstblätter über das frische Grab.
Royal stand fröstelnd in der kalten feuchten Luft und betete leise. Der leichte Umhang bot keinen Schutz gegen den Regen, der niederströmte und ihr das Haar am Kopf kleben ließ.
Sie schaute auf und bemerkte am äußersten Ende eines Eichenzweiges ein einzelnes Blatt, das dem Winde standhielt, bis es endlich auch von einer jähen Bö heruntergerissen und über den Boden getrieben wurde. Royal schien es, als hätte ein ähnlicher Sturm ihre bisher heile Welt ebenso auf den Kopf gestellt und ließe sie nun verlassen und voller Angst zurück.
Sie bückte sich und legte die Blumen auf den frischen Erdhügel. Die Tränen, die ihr über die Wangen rannen, spürte sie nicht. Mochte der Vater auch länger als ein Jahr krank gewesen sein, so hatte sie doch
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