Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
Anwesenden sofort beim Eintreten bemerkt wurde. Auch wenn sie wissen mußte, daß alle sie anstarrten, so zeigte sie es keineswegs. Leichtfüßig schritt sie die Stufen in den Ballsaal hinunter, ein junges Mädchen von fast engelhafter Schönheit, graziös und ungewöhnlich elegant. Die weiße Robe war am Saum mit Goldfaden bestickt, das Haar gepudert und, der neuesten Mode entsprechend, in Locken aufgesteckt. Das ebenmäßige Gesicht war blaß und ernst.
Spätestens jetzt, da sie durch die Gasse, die sich auftat, anmutig auf die Treppe zuging, mußte jedem im Saal klar sein, daß sie Damon Routhlands wegen erschienen war. Er konnte sich das nicht erklären, denn er war ganz sicher, die Fremde nicht zu kennen. Was wollte sie von ihm? Er hatte sie nie zuvor gesehen. Eine solch hinreißende Erscheinung hätte er niemals vergessen.
Royal mußte sich zusammennehmen, damit keiner merkte, wie ihr die Hände zitterten. Wurde Damon Routhland spüren, wie verzagt sie war? Mußte es ihm nicht beim ersten Blick auffallen, wie sie bangte? Und doch regte sich tief in ihrem Innersten eine sachte Empfindung bei dem Gedanken, ihm gegenüberzustehen. Obwohl sie uneingeladen auf dem Ball erschienen war, hatte niemand sie am Eintreten gehindert. Langsam näherte sie sich Damon Routhland, auch wenn sie am liebsten kehrtgemacht und die Flucht ergriffen hätte.
Dann stand sie vor ihm, schaute in die goldbraunen Augen und wagte den Blick nicht abzuwenden aus Angst, sonst allen Mut zu verlieren. Sie hatte Damon nicht so riesenhaft in Erinnerung gehabt, nicht so breitschulterig und hochgewachsen, nicht so unvorstellbar gutaussehend in der blauen Galauniform mit den goldenen Epauletten und der blitzenden Verschnürung. Hatte er eigentlich immer schon so ungewöhnlich gut ausgesehen? Das schwarze Haar war ungepudert und in einem Zopf zusammengefaßt, das Gesicht gebräunt. Die mühsam gebändigte Kraft, die von ihm ausstrahlte, erinnerte Royal an einen gefangenen Tiger. Unsicher wartete sie auf ein Zeichen, daß Routhland sich freute, sie wiederzusehen, und ihr nicht zürnte, daß sie seinen ausdrücklichen Wunsch mißachtet hatte.
Der Colonel senkte die Lider über die goldfarbenen Augen und lächelte. Dann schlug er die Hacken zusammen und verneigte sich. Seine Stimme klang dunkel und voll, als er sagte: „Gestatten Sie mir noch ein Verweilen im Paradies der Toren, mein schöner Engel, und lassen Sie mich davon träumen, daß Sie vom Himmel niedergestiegen sind, um nur mich zu sehen.“
Royal fühlte sich betroffen und verwirrt zugleich. Dieser Mann hatte ihr versprochen, sie nie zu vergessen, und nun erkannte er sie nicht einmal. Wie konnte das geschehen? Rasch faßte sie den Entschluß, sich nicht gleich zu erkennen zu geben. Zuerst wollte sie ihn noch ein wenig zappeln lassen, mit ihm spielen wie die Katze mit der Maus, ihm schöne Augen machen. Dann erst sollte er erfahren, wer sie wirklich war.
Mit einem verheißungsvollen Blick sah sie zu ihm auf und sagte: „Ich bin gekommen, Sie zu treffen, Colonel Routhland.“
Er zog eine der dunklen Brauen fragend hoch. „Wenn das so ist, Miss …?“
Sie legte einen Finger auf die Lippen Damon Routhlands. „Nicht doch, heute abend keine Namen, bitte. Wollen wir nicht tanzen, Colonel?“
Ihm war der britische Akzent nicht entgangen und nicht das überaus modische elegante Ballkleid, das von einer erstklassigen Schneiderin in London stammen konnte.
„Sie sehen mich bestürzt, denn allem Anschein nach wissen Sie, wer ich bin, ich dagegen kenne Sie nicht.“
Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sich Royal Bradford versucht, einem Mann den Kopf zu verdrehen, ermutigt durch die Maske der Namenlosigkeit. Vermutlich wäre die gute Mrs. Fortescue in Ohnmacht gefallen, hätte sie die Vorstellung miterlebt, die ihre liebste Schülerin an diesem Abend bot. Doch Charles Town war so weit von London und der Fulham School entfernt.
„Haben Sie etwas gegen Geheimnisse, Colonel?“
Er bot ihr den Arm und führte sie in den Reigen der Tanzenden. Sein Blick streifte die verlockend geschwungenen Lippen. „Für gewöhnlich nicht. Aber dieses Ihr Geheimnis würde ich nur zu gern ergründen.“
„Trauen Sie sich das auch wirklich zu?“ scherzte sie.
„Ich werde mir alle Mühe geben.“ Wieder hob er eine Braue.
Royal lächelte und überließ sich in seinen Arm gelehnt, ganz der Musik.
„Wollen wir es als Herausforderung nehmen? Wenn es Ihnen vor Sonnenaufgang gelingt, mein Geheimnis zu
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