Barbarendämmerung: Roman (German Edition)
Verantwortung zu ziehen für seine Ungerechtigkeiten.«
»Das wäre wohlgetan, ja«, sagte einer der Geißler.
»Kleidet ihn in Stücke aller Toten unseres Dorfes, dann wird ihre vereinte Kraft in ihm sein.«
»Der Berggott wird sich dann nicht einem gegenübersehen, sondern vielen. Er wird nicht wissen, wohin mit seiner Axt.«
»Seine Axt mag groß sein wie die Welt, aber wenn man viele ist, können nicht alle auf einmal getroffen werden.«
»Wir würden ja mitkommen und dich unterstützen«, wisperte der Älteste, »aber wir sind alt, wie du siehst. Oder schwach. Und keiner von uns ist so groß wie du.«
Mehrere Frauen brachten nun Kleidung. Warme Hosen, Wämser, langärmelige Oberteile, Leibbinden, Winterschurze, sogar Handschuhe, Schals und eine Mütze. Alles selbst gefertigt und vielfach ausgebessert. Der Barbar wusste nicht, was er mit dem Krempel anfangen sollte. Eine der Frauen jedoch brachte Stiefel.
»Er ist barfuß!«, bemerkten auch jetzt erst die Geißler.
»Er ist unverstellten Herzens, auch wenn er ein Kämpfer ist!«
»Er setzt sich dem aus, was er betritt. Vielleicht sollten wir ihm diesen Vorteil nicht nehmen?«
»Aber im Felsen? Im Eis? Seine Zehen werden erfrieren!« Kurz sah es so aus, als wollte der eine Geißler den anderen geißeln.
»Nimm diese Stiefel und diese Socken«, sagte die Frau und hielt dem Barbaren beides hin. Ihr Gesicht war sehr offen, sehr freundlich. Sie duzte ihn auch, als wäre er ihr Sohn. »Sie müssten dir passen. Sie gehörten meinem Mann. Er war auch … sehr groß.«
Er zögerte kurz, nahm dann die Socken, zog sie an, schließlich die Stiefel darüber. Er kannte diese Gepflogenheiten, weil er sie bei Söldnern beobachtet hatte, die kurze Zeit später trotz all ihrer Socken und Stiefel sehr viel toter gewesen waren als er. Dann nahm er sich noch ein langärmeliges Wollhemd aus dem ihm dargebrachten Kleidungsstapel, weil seine Brust unter dem Stadtmagiermantel nackt war. Die Frau, deren Wollhemd das war, fühlte sich nun ausgezeichnet unter den anderen Frauen wie vorher der junge Mann am Brunnen. Sie und die Frau mit den Stiefeln und Socken waren nun unter ihresgleichen die Heldinnen. Der junge Mann am Brunnen war vergessen.
»Die Beeren«, raunten die Dörfler nun. »Bringt ihm die Beeren.«
Der Dorfälteste versuchte sich gerade zu rücken. »Bringt ihm die Beeren!«, befahl er mit winziger Stimme. Einige Frauen rannten los und kamen kurz darauf mit einer Schale voller roter Beeren wieder. Die Schale ähnelte der mit dem Haferschleim.
Der Barbar wunderte sich über dieses Dorf. Die Menschen betrugen sich gastlich, boten ihm aber nicht an, sich zu setzen, wie es selbst unter Barbaren üblich gewesen wäre. Stattdessen fütterten sie ihn und versorgten ihn mit dem Notwendigsten, um ihn gleich darauf weiterschicken zu können in den – ihrer bisherigen Einschätzung nach – sicheren Tod. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, ob sie ihn ebenfalls als einen Feind – einen »Gott«, wie sie das nannten – betrachteten oder nicht. Immer wieder irrten seine Blicke hinauf ins Massiv, in die Richtung des steinernen Bogens. Hatte nicht einer der Geißler von der »Bande« des Berggottes gesprochen? Dort oben war niemand zu sehen. Nicht einmal der Rauch eines Lagers kräuselte sich gegen das Blau. Waren diese Menschen alle irrsinnig? Auf eine freundliche, gegen sich selbst gerichtete Weise?
Jetzt noch diese Beeren.
Der Alte griff in die Schale und nahm eine Handvoll der getrockneten, schrumpeligen Früchte heraus. Sie hatten die Größe und Form von Sonnenblumenkernen, sahen jedoch keiner Frucht ähnlich, die dem Barbar bislang untergekommen war.
»Dies sind Beeren der Kraft«, trug der Alte in einem Singsang vor, ähnlich dem des einen Geißlers vorhin. »Wenn Ihr sie einnehmt, bevor Ihr Euch dem Berggott stellt, werdet ihr seine Bewegungen sich verlangsamen sehen. Auch seine Männer werden euch vorkommen, als bewegten sie sich durch Sirup. In Wirklichkeit jedoch seid einfach Ihr schneller und gewandter geworden. Doch Obacht, die Wirkung hält nicht lange an. Nehmt alle auf einmal, sonst werden sie euch nichts nützen.«
Der Barbar hielt seine Hand auf, und der Älteste schüttete ihm seine eigene Handvoll hinein. Zwei der Beeren fielen zu Boden. Der junge Mann vom Brunnen ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen, hob sie auf und las sie sorgfältig in die Hand des Barbaren. Nun war der junge Mann wieder im Mittelpunkt der dörflichen Wertschätzung
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