Barbarendämmerung: Roman (German Edition)
angekommen und strahlte über das ganze Gesicht.
Der Barbar überlegte, ob er die Beeren jetzt gleich essen sollte. Sie sahen köstlich aus, und er hatte Hunger. Aber er wollte den Geschmack von Fleisch, nichts Süßes. Er steckte sie sich in eine Außentasche seines Stadtmagiermantels. Die Dörfler seufzten andächtig.
»Jetzt geht, mein Freund, und erschlagt den Gott!«, krächzte der Älteste. »Bei Eurer Rückkehr wird dieses Dorf sich in ein Fest gewandelt haben, und Ihr werdet niemals, so lange Ihr auch zu leben vermögt, bereuen, Euch uns zu Freunden gewonnen zu haben.«
Der Barbar verstand die umständliche Sprechweise des Alten nicht mehr. Seine Gedanken und Blicke waren bereits dort oben, im Berg, suchten nach einem Aufstieg, einer Passage.
Ein Gott? Ein leibhaftiger Gott?
Der Heilige war bereits eine Enttäuschung gewesen.
Vielleicht hatte ein Gott mehr zu bieten.
Jemand berührte sein Schwert. Er zuckte zusammen und starrte denjenigen an. Es war ein junges Mädchen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Mit ihren Augen stimmte etwas nicht, sie waren nach oben und zur Seite hin verdreht, und beide in unterschiedliche Richtungen. Die Dorfbewohner hielten murmelnd Abstand zu ihr, hatten vielleicht gar nicht gewollt, dass sie sich bis zu ihm durchdrängelte.
Abermals berührte sie sein Schwert. Da er keine Scheide dafür hatte, war es nackt.
»Kennst du die Geschichte von dem Helden, der einen Gott herausforderte?«, fragte sie mit einer feinen, nach Honig duftenden Stimme. »Nein? Dann will ich sie dir nicht vorenthalten. Es ereignete sich in einem Gebirge, ganz ähnlich wie dem, das du hinter und über uns sehen kannst. Der Held stieg hinauf in die Gipfel und rief nach dem Gott, um ihn zum Kampf zu fordern. Der Gott aber zeigte sich nicht. Der Held rief und rief, und der Gott zeigte sich nicht. Der Held errichtete Zeichen, und der Gott beachtete sie nicht. Der Held entzündete ein Feuer, und der Gott sah es nicht. Der Held zerschlug Dinge von Wert, und der Gott hörte es nicht. Schließlich begann der Held, den Gott zu verspotten. Dass er ein Feigling sei, weil er sich nicht zu zeigen wage. Er spottete und führte Schmähreden und lachte über den Gott. Und das Gelächter hallte zwischen den Bergen wider, höher und höher und lauter und lauter, es schaukelte sich auf bis zu einem ganz unerhörten Geräusch, bis es irgendwo ganz dort oben, dort, wo das menschliche Auge kaum noch hinreichen kann, einen kleinen Schneerutsch auslöste. Der kleine Schneerutsch kam hinab und wurde größer und größer, und in einer riesigen Lawine wurde der Held mitgerissen und zerschmettert. Der Gott jedoch ritt auf dieser Lawine zu Tal und kam so zu den Menschen, um dort fortan blutige Ernte zu halten. So ist es überliefert, du Träger eines schönen Schwertes. Verspotte keinen Gott. Du magst ihn bekämpfen und auch umbringen, aber niemals, niemals darfst du über ihn lachen.«
Alle schwiegen. Der Barbar berührte das Mädchen mit den Fingern an der Wange, sie wandte sich dieser Bewegung zu, mit verdrehten Augen wie eine Blinde, doch sie war nicht blind. Er ging an ihr vorbei, ließ sie und die anderen Dörfler einfach stehen und suchte sich einen Weg hinauf in den Fels.
Das Gestein war schroff und kalt. Der Barbar jedoch zog die Stiefel wieder aus, denn er musste eine Senkrechte hinauf, und er hatte nicht ausreichend Gefühl in den Zehen, wenn diese durch Leder ummantelt waren. Er arbeitete sich voran wie ein Insekt. Nach dieser ersten Senkrechten, die vielleicht vierzig Schritt in die Höhe führte, wurde es einfacher. Hier gab es Plateaus und Grate, über die er sich weiter nach oben und der Steinbrücke entgegen bewegen konnte.
Er befand sich schnell weit oberhalb des Dorfes. Von hier sah es noch verrotteter aus als von unten, die im Wind flatternde Kleidung wurde zu Fetzen der Kapitulation, die Dächer zu abschüssigen Flecken, die Menschen zu Kleinkram, ihre Bedürfnisse nichtig.
Schon vierzig Schritt oberhalb wurde jeder zu einem Gott der Berge. Wie musste es dann erst dort oben, in weiteren zweihundert, zweihundertundfünfzig Schritt Höhe sein?
Der Sommerwind begann bereits hier, scharfkantig zu werden. Schnee und Eis waren noch weit entfernt, selbst die Brücke war noch nicht schneebedeckt, nur dahinter, im ferneren Anblick des Gebirges, kleidete sich alles in Weiß und eisiges Blau.
Auf allen vieren nahm der Barbar eine schrundige Steigung und versuchte, kein Gestein ins Rutschen zu bringen,
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