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Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Titel: Barbarendämmerung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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als die anderen mit ihrer – wie hatte Ionie das ausgedrückt? – »echten Zuneigung«. Aber auch an ihr vergriff er sich nicht. Sie begegnete seinen Blicken so unbekümmert, als wären sie beide Kinder. Auch ihre Nacktheit erschien ihm unschuldig. Wie konnte es an einem Ort wie diesem Unschuld geben? Er verstand es nicht, aber er empfand es.
    Der Knabe, der ihn an der Hand hierhergeführt hatte, war das Kind eines der Mädchen. Er erfuhr nie seinen Namen und sah ihn auch nur selten wieder. Der Knabe schien in einem anderen Teil des Hauses zu leben als er selbst.
    Die Männer, die als Freier kamen, waren hässlich. Selbst wenn es sich um Schönlinge handelte, mit weißen Pelzkrägen und raschelnden Handschuhen, so fand er sie niedrig und verachtenswert. Ihre Gesichter drückten etwas aus, was er verabscheute: Bequemlichkeit. Wenn sie etwas wollten, kauften sie es sich, um den Widerstand des Gewünschten zu überwinden. Er starrte sie an mit finsterem Blick, und der eine oder andere machte sogar kehrt und versprach stammelnd, an einem anderen Abend wiederzukommen. Aber auch an diesem Abend war er wieder da und starrte dem Freier entgegen, und diesem brach der kalte Schweiß aus. Er ging nicht mehr weg.
    Es gab auch Stammkunden. Einer davon war ein anzüglicher Wicht, der pausenlos allen erzählen wollte, was er gerade auf dem Zimmer mit einem der Mädchen getan und erlebt hatte. Er erzählte es jedem, auch denen, die nichts davon hören wollten. Der Barbar war mehrmals kurz davor, ihn vor die Tür zu werfen, aber Ionie hauchte ihn jedes Mal zurück.
    Ein anderer war ein brutal aussehender Glatzkopf, der »besondere Wünsche« hatte. Die Mädchen, mit denen er es tat, waren anschließend für mehrere Tage nicht mehr arbeitsfähig, aber er bezahlte dermaßen gut, dass Ionie die Verdienstausfälle mit Leichtigkeit verkraften konnte.
    Wiederum ein anderer war schmächtig und still, aber er brauchte fünf Mädchen in einer Nacht, bis seine Begierde auch nur annähernd zur Ruhe kam.
    Ein weiterer war in eines der Mädchen verliebt und brachte ihr immer Blumen. Ionie warf diese Blumen auf die Hintergasse hinaus und teilte ihm mehrmals ein anderes Mädchen zu, nur um ihn zu quälen und um ihn zum Wiederkommen zu bewegen. Denn sie war der Meinung, dass wahre Liebe nicht lange hielt, wenn sie sich zu oft erfüllen durfte.
    Dann war da noch einer der Stadtobersten. Wenn er zu Gast war, wurde immer dafür Sorge getragen, dass er unerkannt – maskiert – kommen und gehen konnte. Manchmal wurden dann sogar die übrigen Gäste aus dem Haus komplimentiert, um Verwicklungen, Begegnungen und Komplikationen zu vermeiden.
    Mehrmals kamen Väter mit ihren Söhnen. Die Söhne sollten zu Männern werden, und die Väter schauten ihnen dabei lüstern zu, gaben Ratschläge und ermahnten.
    Einmal tötete ein ganz gemütlich aussehender Dicker beinahe eines der Mädchen. Er hatte vor Raserei buchstäblich Schaum vorm Mund. Der Barbar griff ihn und schmiss ihn nackt auf die Gasse, und dort lag er dann den ganzen Rest der Nacht und weinte, obwohl es regnete.
    Und einmal kam einer der Jünglinge auf den Barbaren zu, berührte lächelnd sein Leder und machte ihm ein Angebot. Der Barbar hob beide Hände, um ihm die geschminkten Augen ins Innere des Schädels zu drücken, aber wieder hielt ihn eine zarte, parfümierte Hand zurück. Er spürte die langen Nägel auf seinem Puls, und so wurde er abgelenkt und vergaß seine Wut. Er vergaß sehr vieles in diesen Tagen. Also betrug er sich vorbildlich.
    Am Ende seines ersten Monats nahm ihn Ionie zu sich. Es bereitete ihm wenig Vergnügen, obwohl sie sich sehr viel Mühe gab, ihn ausgefallen zu unterhalten. Aber in seinem Kopf war er woanders. Er hatte heute jemanden reden gehört von einer Wiese, auf der riesenhafte Ungetüme grasten. Er wollte diese Ungetüme sehen.
    In jener Nacht stahl er sich zum ersten Mal aus seinem Fenster auf die mit verrottenden Blumen übersäte Hintergasse hinaus und ging die Wiese suchen. Eigentlich war es verrückt, denn da er niemanden nach dem Weg fragte, konnte er die Wiese nicht finden. Aber derjenige, der davon erzählt hatte, hatte auch von einem Plakat gesprochen, das überall in der Stadt zu sehen war, und so suchte er die Wände ab und fand tatsächlich ein Plakat, das Ungetüme zeigte. Er riss es ab und schwenkte es so lange fordernd vor dem Gesicht eines eingeschüchterten Bürgers, bis dieser ihm den Weg zur Festwiese dreimal erklärt hatte.
    Es gab vier dieser

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