Barbarendämmerung: Roman (German Edition)
Ungetüme. Sie waren riesig, vor ihnen kam der Barbar sich wie ein Zwerg vor. Zwei von ihnen schliefen im Stehen. Die anderen beiden grasten nicht, sondern sammelten sich mit ihren bodenlangen Rüsseln Heuhalme zusammen, drechselten diese und schoben sie sich in den spitzen Mund. Sie hatten riesige Ohren, bauchige, graue, von Falten überzogene Leiber und die friedlichsten und weisesten Augen, die der Barbar je gesehen hatte. Einer der Tierhüter, der den schweigsamen Betrachter entdeckte, erklärte, der Name dieser Tiere sei Elfen .
Der Barbar wollte eines berühren und streckte die Hand aus. Der Tierhüter sagte: »Nur zu, aber pass auf, dass du sie nicht erschreckst, sie sind nämlich trotz ihrer Größe sehr furchtsam.«
Er berührte das runzlige Grau, erst mit der Innenseite, dann der Oberseite seiner Hand. Es war weder kalt noch warm, weder alt noch jung, weder ewig noch sterblich.
Über ihm funkelten unbeständig die Sterne. Die Stadt lag in Schlaf, und nur in einigen Vierteln wetteiferten Lichter mit dem Klirren von Trinkgefäßen.
Er ging zurück und begriff erst jetzt, dass er den Weg zum Haus der Freuden nicht mehr finden konnte. Die Stadt verwehrte es ihm mit ihrer Vielschichtigkeit und ihren wechselhaften, wabernden Gerüchen.
Eine Weile ließ er sich treiben. Er hatte kein Schwert und fühlte sich nackt. Er sah Kinder, die händchenhaltend durch das Dunkel glitten. Er sah Menschen, die wie verkleidet aussahen, mit Waffen, die man unmöglich führen konnte, oder Rüstungen, in denen kaum Bewegung möglich war. Er sah einen Dieb, der einen Reichen bestahl, während dieser mit ihm redete. Ein Mädchen, das sich feilbot, außerhalb der schützenden Umzäunung eines Hauses, und das dementsprechend gehetzt wirkte. Er begegnete Uniformierten, die ihn ansahen, als hätten sie ihn schon lange gesucht, aber als würden sie ihn nun, da sie ihn gefunden hatten, doch lieber nicht erkennen wollen.
Er fühlte sich traurig, dass er den Weg nicht fand. Sein Schwert war noch dort. Sein Mantel. Selbst seinen Ohrring hatte er in der zweiten Woche in den Schrank gelegt, weil zu viele der Mädchen ihn auf dieses Schmuckstück angesprochen hatten. Er hatte das Gefühl, sie erwarteten, es von ihm geschenkt zu bekommen. Aber er wollte es nicht hergeben.
Musik gischtete an ihn heran. Man feierte etwas, eine Hochzeit oder einen Leichnam. Menschen hakten sich ein und wirbelten sich gegenseitig im Kreis, ihre Gesichter rot und verwischt, ihre Haare gelöst. Ein junger Mann, der beinahe wie eine Frau aussah – nur sein Kehlkopf verriet ihn –, bot sich ihm an. Dies schien immerhin bereits das richtige Viertel zu sein. Und dann sah er einen der Stammkunden. Es war der Glatzkopf, der die »besonderen Wünsche« hatte. Er folgte ihm einfach, durch ein Gewirr blau und rot schimmernder Gassen, durch die er niemals alleine gefunden hätte, weil es überall nach Kohlsuppe roch und nach Katzen und schimmelnden Obstschalen. Und so fand er Ionies Haus wieder. Den Vordereingang.
Er konnte von vorne nicht hinein, denn niemand hatte ihn hinausgehen sehen. Also umrundete er den Häuserblock, was abermals gar nicht einfach war. Dann fand er endlich die Gasse mit den Blumen und kletterte – verkeilt in die Wand wie ein Kaminsteiger – zu seinem Fenster hinauf, wo er sich – ausnahmsweise – in das Bett legte, um einzuschlafen.
Die Ungetüme mit den Rüsseln zogen durch seinen Traum, eine riesige Herde, Tausende von ihnen, eine Savanne bedeckend, Staub aufwirbelnd wie ein Heer.
Er hielt noch einen weiteren Monat durch.
Mehrmals jagte ihn seine eingeborene Unrast nachts nach draußen. Aber er ging nie wieder so weit, dass er den Weg zurück nicht gefunden hätte. Er prägte sich einige der umliegenden Gassen ein und war beinahe erstaunt darüber, dass sie ihre Lage nicht veränderten. Ihr Licht war jedes Mal anders, aber wenn er beschloss, sich davon nicht verwirren zu lassen, führten sie ihn immer wieder an dieselben Kreuzungspunkte.
In den letzten Tagen dieses Monats zog Ionie ihn damit auf, dass er sich bald ein Mädchen wünschen dürfe, und welches es denn werden würde. Die Mädchen machten ein Ratespiel daraus und kicherten in seiner Gegenwart besonders viel, aber er interessierte sich gar nicht für sie.
Er wurde zusehends reizbarer, schien sogar ein wenig abgemagert zu sein. Der allgegenwärtige Ambraduft klebte ihm wie die Arme eines Tintenfisches in den Nasennebenhöhlen. Einmal schlug er einem Betrunkenen, der einfach
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